Big Tech ist nicht wiederzuerkennen: Bei Regulierung hört der Spaß auf

Big-Tech-Firmen kommen mit den neuen EU-Gesetzen nicht klar. Den Unmut der User als Druckmittel zu nutzen, könnte nach hinten losgehen, meint Malte Kirchner.

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 EU-Fahnen vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel.

(Bild: artjazz/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
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Es erinnert ein wenig an die umstrittenen Kollektivstrafen, die es einst an Schulen gab: Weil einer den Unterricht stört, muss die ganze Klasse auf den versprochenen Ausflug verzichten. Am Freitag gab Apple überraschend bekannt, dass seine KI-Funktionen unter dem Oberbegriff Apple Intelligence, die iPhone-Spiegelung auf dem Mac und die Fernwartung für iPad und iPhone via SharePlay dieses Jahr wohl nicht für Nutzer in der Europäischen Union bereitgestellt werden. Die Verlautbarung liest sich eher wie eine Vorwarnung als eine konkrete Ankündigung. Ob es im Herbst wirklich so kommt, gilt es noch abzuwarten. Als Grund werden regulatorische Unsicherheiten infolge des EU-Gesetzes für digitale Märkte (DMA) genannt. Wobei es fraglich ist, ob die Funktionen tatsächlich aufgrund der Gesetze nicht veröffentlicht werden können.

Ein Kommentar von Malte Kirchner

Malte Kirchner ist seit 2022 Redakteur bei heise online. Neben der Technik selbst beschäftigt ihn die Frage, wie diese die Gesellschaft verändert. Sein besonderes Augenmerk gilt Neuigkeiten aus dem Hause Apple. Daneben befasst er sich mit Entwicklung und Podcasten.

Die Big-Tech-Firmen als über den Dingen stehende Lehrer, die nur das Beste für ihre Schüler wollen und die EU als Klassenclown und Störenfried, der alles nur kompliziert macht – es sind genau diese Bilder, die die Verlautbarungen aus den Marketingabteilungen dieser Tage in die Köpfe der EU-Bürger projizieren. Mit dem (drohenden) Verzicht auf Funktionen im EU-Raum soll offenbar über die Kunden Druck auf die EU ausgeübt werden. Meta hat das Spiel mit Liebesentzug aufgrund von EU-Gesetzen wie DSVGO, DSA, DMA, Ai Act und Co. ja schon mit seinem sozialen Netzwerk Threads einmal durchgespielt. Das kam erst ein halbes Jahr später in die EU und neue Funktionen wie jetzt beim Fediverse werden teilweise immer noch mit Zeitverzug nachgereicht. Aktuell enthält Meta EU-Nutzern seinen Chatbot Meta AI mit Verweis auf die EU-Gesetze vor. Erstaunlich ruhig verhalten sich indessen Google und Microsoft – da die beiden schon vorher Regulierung gewöhnt waren, hält man vielleicht lieber still und schaut sich bis auf Ausnahmen einfach mal an, wie sich die anderen an der EU abarbeiten.

Für Apple, das in politischen und regulatorischen Fragen eigentlich traditionell eher die Geräuschlosigkeit liebt, ist die aktuelle Entwicklung ein bemerkenswerter, wenngleich nicht der erste solche Schritt in diesem Jahr. Schon im Frühjahr erlebten iPhone-Nutzer ein teils verwirrendes öffentliches Wechselspiel zwischen dem iPhone-Hersteller und der Europäischen Union, wobei letztgenannte in Apple-Manier eher hinter verschlossenen Türen wirkte.

Am vorläufigen Ende dieser Auseinandersetzung stand eine Öffnung des App Stores, die zwar die von der EU vorgeschriebenen alternativen Marktplätze und den Download einzelner Apps aus dem Web vorsieht. Doch jüngst wurde bekannt, dass die EU mit der Kerntechnologiegebühr, der Notarisierung und weiteren Mechanismen Apples, um einen Rest Kontrolle zu behalten, ihre Probleme hat. Die zeitliche Nähe des Bekanntwerdens der Untersuchungsergebnisse zu Apples Ankündigung für iOS 18 ließ manchen eine Retourkutsche Apples vermuten.

Wie bei solchen Untersuchungen üblich, wird es mindestens ein Jahr dauern, bis in den Fall Bewegung kommt und im besten Falle die Fronten geklärt sind. So viel Zeit hat Apple bei iOS 18, iPadOS 18 und macOS 15 nicht: Im Herbst sollen die neuen Versionen als Update an die Nutzer ausgespielt werden – und nach Apples Anschauung ein neues KI-Zeitalter einleiten. Derzeit stehen die Zeichen so, dass die EU-Öffentlichkeit davon teilweise ausgeschlossen sein könnte – aber nicht, weil die EU es so will, sondern weil Apple die Funktionen "vorsichtshalber" zurückhält. Offenbar fürchtet man in Cupertino, die EU könnte daran Anstoß nehmen, dass die Apple-KI auf Systemebene alleine unterwegs sein darf, eine andere Fernsteuerung als SharePlay ausgeschlossen bleibt und auch das iPhone-Spiegeln nur mit der Apple-Software möglich ist. Wir könnten im Positiven auch sagen: Es zeigt, dass man in Cupertino sehr wohl ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, was in der EU nicht zulässig ist.

Für den Moment gibt es allerdings aus Nutzersicht keinen Grund zur Panik. Schon auf der Entwicklerkonferenz WWDC war klar: Die Apple Intelligence wird dieses Jahr ohnehin nur auf US-Englisch erscheinen und manches wird anfangs überall noch fehlen. Die anderen beiden Funktionen zur Fernsteuerung und Fernwartung sind nützlich, aber bekommen durch die Aufregung eine größere Bedeutung, als sie in Wirklichkeit haben. Nüchtern betrachtet: So viel entgeht den EU-Nutzern gar nicht, andererseits bleibt von den Updates ohne diese Funktionen nicht mehr ganz so viel übrig. Derzeit spüren das Vorenthalten ohnehin nur die Mutigen, die die Entwickler-Betas auf ihre Geräte laden.

Dass Apple trotzdem jetzt schon öffentlich den EU-Ausnahmefall ausruft, ist eine Reaktion auf eine Ansage, die es nicht gegeben hat. Öffentlich hat sich die EU bislang nicht zu Apples Neuvorstellungen geäußert – und das wird sie auch nicht, solange sie nicht beim Nutzer landen. Also übt sich Apple in vorauseilendem Gehorsam bzw. in einer sonst unbekannten Ängstlichkeit. Langjährige Apple-Kunden weisen zu Recht darauf hin, dass mit Machine Learning und der iPhone-Spiegelung via Quicktime auf dem Mac doch ähnliche Funktionen längst in den Apple-Betriebssystemen stecken, an denen bislang keiner Anstoß genommen hat. Warum sollte sich die EU plötzlich darauf stürzen, obwohl sie bislang anscheinend kein Problem damit hatte?

Und so findet sich der arglose EU-Bürger, der mit seinem iPhone künftig einfach nur gerne per KI Texte korrigieren, seiner Oma aus der Ferne mit ihrem iPad helfen oder sich am Mac den Griff zum iPhone sparen möchte, plötzlich mitten in einem politischen Mächtespiel wieder. Zumindest bei einigen Zeitgenossen und Influencern erzeugt das Groll auf die EU – ein Effekt, den Apple in jedem Fall billigend in Kauf nimmt, vielleicht sogar herausfordert. Sollte es allerdings die Absicht gewesen sein, per Nutzer Druck auf die EU auszuüben, geht der Schuss eher nach hinten los: Viele Stimmen in Netzkommentaren lesen sich so, als wenn einigen erst durch das forsche Vorgehen Apples und Metas die Notwendigkeit einer Regulierung der großen Tech-Konzerne bewusst geworden ist. Auch Meta macht sich keine Freunde mit seiner Gangart. Es ist schier unglaublich, dass solche Großunternehmen mit ihren immensen Ressourcen nicht in der Lage sein wollen, regulatorische Probleme zu lösen.

Der Druck, der durch solche Schritte wie von Apple und Meta entsteht, ist allerdings für die Firmen selbst viel größer als für die EU. Was wird im September passieren, wenn die neuen iPhones und damit auch die neue Software kommen? Wird dann der kollektive Groll auf die EU so groß sein, dass Apple gelingt, was Microsoft und Meta nicht schaffen: den DMA aus den Fugen zu reißen? Oder wird es vielmehr so sein, dass Apple sich ins eigene Knie schießt und seine iPhone-Verkäufe torpediert? Wer kauft schon ein neues Gerät für Anwendungen, die er nicht bekommt und in dem Wissen, zum politischen Spielball zu werden?

Die Erfahrung lehrt: Kollektivbestrafungen und Aktionen, die danach aussehen, haben selten zur Folge, dass sich die Masse gegen den richtet, dem sie gelten. In der Regel richtet sich der Groll am Ende gegen denjenigen, der sie ausgesprochen hat. Der Störenfried in der Klasse gewinnt eher Sympathien, der Lehrer ist der Böse. Deshalb enden solche Strafandrohungen ja meist vor Umsetzung auch mit einem Happy End: Alle haben ihre Lektion gelernt und der Ausflug kann trotzdem stattfinden.

Bleibt zu hoffen, dass in dem Ringen um das komplexe Regelwerk irgendwann ein Konsens steht, der Big Tech die erhoffte Klarheit und Rechtssicherheit gibt und gleichzeitig den Kerngedanken dieser Gesetzgebungen bewahrt: Dass eine in Zukunft immer digitalere Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn die Big-Tech-Firmen mit uns Nutzern nicht machen können, was sie wollen.

(mki)