Barrieren in Onlineshops: "Das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte"

Fast vier von fünf Onlineshops sind für Menschen mit Behinderung nicht nutzbar, zeigt eine Studie. Viele scheitern bereits an der Bedienbarkeit per Tastatur.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 38 Kommentare lesen
Zwei Hände lesen auf einer Braille-Tastatur am Computer

Viele Websites sind nicht rein über die Tastatur bedienbar. Menschen mit Behinderungen stellt das vor große Probleme.

(Bild: Chansom Pantip / Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Es sei ein ernüchterndes Ergebnis, stellen die Verantwortlichen einer Studie zur digitalen Barrierefreiheit fest. Im Auftrag der Aktion Mensch und Google, in Zusammenarbeit mit der Beratungsagentur BITV-Consult, PIA UDG und der Stiftung Pfennigparade haben Testpersonen die 71 meistbesuchten Onlineshops auf ihre Usability für Menschen mit Behinderung getestet. 56 Anbieter fielen durch.

Lediglich 15 der getesteten Seiten ließen sich mit Tastatur statt Maus bedienen, berichten die Testteams. Im Vergleich zum Vorjahr, in dem die Studie schon einmal erschien, habe sich am Anteil der barrierefreien Webshops nichts geändert. Für behinderte Bürgerinnen und Bürger ist es demnach nach wie vor schwierig bis unmöglich, elektronische Geräte, Kleidung, Lebensmittel, Spielzeug, Möbel oder andere Dinge online zu bestellen.

Sophie Geiken lebt mit einer Gelenksteife, die ihre Bewegungsfähigkeit einschränkt. Die Münchenerin ist überwiegend mit der Tastatur im Internet unterwegs und setzt statt einer Computermaus auf die Tab-Taste. In einem Video zeigt sie beispielhaft, wie sie eine Shoppingseite getestet hat – in diesem Fall ein Kleidungsgeschäft. "Ich habe hier ein rotes Kleid gefunden, das ich kaufen möchte, aber ich kann keine Größe auswählen", erklärt die Testerin. "Der Warenkorb ist ausgegraut und erst anwählbar, wenn man eine Größe festgelegt hat." Damit hat der Shop eine potenzielle Kundin ausgeschlossen. Geiken muss sich einen anderen Anbieter suchen.

Orientierungslosigkeit durch fehlende Beschriftungen oder Alternativtexte, unlogische Reihenfolge der Tabsteuerung, zu kleine oder zu magere Schrift, fehlende Untertitel, kein Angebot in einfacher oder leichter Sprache, dürftige Kontraste: Wie Sophie Geiken ergeht es im Alltag vielen Menschen, die sich auch in der digitalen Welt von großen Barrieren ausgebremst sehen.

In Deutschland leben 13,5 Millionen Menschen mit Beeinträchtigung, 10,2 Millionen davon mit einer anerkannten Behinderung und 7,8 Millionen mit einer anerkannten Schwerbehinderung. Eine riesige potenzielle Zielgruppe, betont der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel. Ihm erschließt sich nicht, warum viele Betreiber von Websites das nicht zu erkennen scheinen. "Es ist ziemlich gaga, eine so große Gruppe von Menschen auszuschließen", sagt Dusel. Schließlich sei es keinesfalls so, dass jene, denen das Gesellschaftssystem und Unternehmen Barrieren in den Weg stellen, keine Kaufkraft hätten. "Es ergibt einfach keinen Sinn, Barrieren zu schaffen." Barrierefreiheit sei ein Qualitätsmerkmal: sowohl für ein modernes Land als auch für die Professionalität eines Unternehmens.

Michael Wahl, Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik, hofft darauf, viele Defizite in der digitalen Barrierefreiheit mit Hilfe Künstlicher Intelligenz beseitigen zu können. "KI kann die User auf eine Journey mitnehmen, meistens sind es Chatbots, die über eine rein sprachliche oder textliche Eingabe etwa einen Graphen erklären kann", sagt Wahl. Die KI könne zudem etwa Zusatzinfos geben, etwa zum Muster eines Kleids – abgestimmt auf den Bedarf der Person vor dem Gerät. Jürgen Dusel sorgt sich unterdessen, auch diese Entwicklung könnte ohne Beachtung von den Interessen behinderter Personen erfolgen. "Damit werden viele Menschen Exklusion erfahren und das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte, das muss man wirklich so deutlich sagen."

Susanne Baumer von der Stiftung Pfennigparade, die an der Studie mitgewirkt hat, betont außerdem, denke ein Unternehmen oder Entwicklungsteam Barrierefreiheit von Anfang an mit, verursache das nicht einmal nennenswerte Mehrkosten – im Gegensatz zu einer nachträglichen Anpassung. Setze man HTML so ein, wie es ursprünglich gedacht war, sei es ohnehin barrierefrei. Wahl untermauert diesen Punkt: "Barrierefreiheit ist keine Raketenwissenschaft, sie ist ordentlich umgesetztes HTML."

"Wer sich als Unternehmen jetzt noch nicht mit dem Thema digitaler Barrierefreiheit beschäftigt hat, sollte das schleunigst tun", appelliert Christina Marx von der Aktion Mensch. Anlass dafür sei nicht nur die das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Es fußt auf der EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit namens "European Accessibility Act" (EAA), die mit Inkrafttreten am 28. Juni 2025 die Mitgliedsstaaten in die Pflicht nimmt, den Onlinehandel barrierefrei zu gestalten. Auch seien Internetnutzende mit Behinderung eine große Zielgruppe, die es zu erschließen gelte. "61 Prozent der behinderten Menschen geben an, das Internet häufig oder sehr häufig für Shopping zu nutzen – im Gegensatz zu 51 Prozent derer ohne Behinderung", sagt Marx.

Für die Auffindbarkeit bei Google ist Barrierefreiheit indes kein eigenes Ranking-Kriterium. Der Suchmaschinenriese setze darauf, dass Unternehmen ihrer Pflicht zur barrierefreien Gestaltung nachkämen und zugleich die Betroffenen wüssten, wo sie ihre Bookmarks setzen. Produkte aus dem eigenen Haus gingen aber stets durch eine Prüfung durch beeinträchtigte Testpersonen, sagt Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte bei Google. Zugleich stelle ihr Unternehmen Leitfäden und Tools zur Verfügung, um Sites auf Barrierefreiheit zu checken.

Die untersuchten Onlineshops entspringen den 500 laut Web-Analyst SimilarWeb meistbesuchten Firmen-Websites in Deutschland. 71 davon verfügten über einen vollständigen E-Commerce-Webshop (vom Suchen bis Kaufabschluss). 2023 waren es noch 78 Sites. Im ersten Schritt untersuchte das Testteam die Onlineshops auf die Nutzbarkeit mit einer Tastatur. Sites, die das Kriterium erfüllten, wurden auf bis zu sieben weitere Kriterien getestet, die auf den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des World Wide Web Consortiums (W3C) basieren:

  • Sind auszufüllende Formularfelder verständlich beschriftet und erklärt?
  • Ist die Textgröße änderbar?
  • Sind die Kontraste von Texten und Grafiken ausreichend groß?
  • Sind multimediale Inhalte für alle Menschen erfassbar?
  • Können Nutzer*innen multimediale Inhalte pausieren, beenden, ausblenden?
  • Sind Überschriften und Beschriftungen aussagekräftig und verständlich?
  • Sind interaktive Elemente (Buttons oder Drop-Down-Menüs) durch assistive Technologien auslesbar?

(are)