Erfahrungen aus meinem Reiseenduro-Vergleichstest

Schwimmt sogar auf Schotter

Die optimale Reiseenduro wird oft gesucht, kann aber nur im Einzelfall gefunden werden, weil jeder Käufer die zu machenden Kompromisse selber abwägen muss. Hier ein Tipp für Leute, die mit Hänger Motorrad fahren ...

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Wir klinkten für die Fotos das hintere Gepäcksystem vom Tiger ab. Er könnte mit Fahrer und Gepäck noch die Honda in seiner legalen Zuladung mitnehmen. 15 Bilder
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

"Schwimmschotter" ist mein neu gelerntes Wort des letzten Quartals dieses Jahres. Seine Bedeutung beschrieb mir ein Mitfahrer unserer herbstlichen, motorisierten Alpenbesteigung so: "Schwimmender Schotter besteht mehrheitlich aus runden Körnern, verhakt sich im Gegensatz zu frischer gebrochenem Schotter also kaum, sodass das Fahrzeug stärker einsinkt." Eine Demonstration fand bereits am nächsten Abend statt, nur Meter vom Schlafplatz entfernt auf einem schwimmend gekiesten Hotelparkplatz. Die Honda CRF 250 L (144 kg vollgetankt) parkte einfach. Die KTM 690 Enduro (154 kg vollgetankt) tat es ihr gleich. Dann grub sich die Yamaha XT 660 Z Ténéré (209 kg vollgetankt) einen Graben zu ihrem Parkplatz. Es war wie diese Szene in Herr der Ringe, mit zwei Legolassies voraus, die als Ballerina-Scouts über den Schnee trippeln, während der Trupp hinter ihm versinkt. Dann kam der Balrog (Triumph Tiger Explorer mit 271 kg vollgetankt). Er kam nicht an der Ténéré vorbei, weil er sich unmittelbar am Eingang eingrub und damit seinen Schlafplatz besiegelte, bis wir ihn am Morgen zu viert aus seinem Loch zogen.

Die Reifendimensionen und mit ihnen die Aufstandsflächen typischer Motorradbereifung für losen Untergrund unterscheiden sich kaum. Deshalb unterscheidet sich der jeweils spezifische Anpressdruck enorm. Ein schweres Motorrad hat fast nur Nachteile auf losem Grund. Alles nichts Neues. Dennoch war es interessant zu sehen, wie unterschiedlich die vier Teilnehmer der Reiseenduro-Tour "möglichst viel Schotter fahren von Genf bis zum Mittelmeer" den Kompromiss nach persönlichen Präferenzen auflösten, der jede Reiseenduro ausmacht: Straßenkomfort versus Geländeeignung. Der Tiger bietet so viel Straßenkomfort wie andere schwere Straßenmaschinen und macht eine ebenso ungrazile Figur im Gelände wie diese. Die 250er-Honda ist fast das Gegenteil.

Gorillas, die auf Gemsen reiten

Sobald der Asphalt endete, spreißelte also die Honda vorneweg wie eine von einem Gorilla gerittene Gemse, denn ihr Fahrer ist groß gewachsen und brutal aussehend. Nach den drei Motorrädern folgte erst nach einer Pause der Elefant namens Tiger. Er stampfte und schwankte wie ein Dampfer. Er konnte natürlich rein von den technischen Möglichkeiten betrachtet schneller, doch jedes Mal, wenn er einmal Bodenkontakt verlor und bei der Landung die Alpen ein Stück zurück in den Boden rammte, wurde der Fahrer wieder vorsichtiger. Man muss Felgenbruch, Gabelundichtigkeiten und Reifenschäden nicht provozieren (wir hatten über die gesamte Tour zwei Reifenschäden, einen bei der KTM, einen bei der Triumph). Langsam fahren mit einer schweren Maschine hat auf einigen Untergründen jedoch einen gravierenden Nachteil: es ist anstrengend.

Das liegt gar nicht speziell am Tiger, nicht einmal an der Kategorie solcher Einspur-SUV. Ich habe gute Geländefahrer mit solchen Schlachtrössern ohne größere Anflüge von Anstrengung Crosser-Anfänger demütigen sehen. Doch für Fahrer näher der Mitte der Glocken-Normalverteilungskurve macht sich das Gewicht doppelt bemerkbar. Auf der Assietta-Kammstraße war es dann nach einem langen Tag des Schotterrüttelns soweit: Der Tigerreiter nahm das Angebot an, auf der kleinen Honda zurück ins Tal zu rollen. Er war wie wiederbelebt. Von den Toten aus "ich kann nicht mehr" auferstanden zu "ich will mehr, mehr Schotter!". Für mich war es der bezeichnende Moment der Tour.

Reiseenduros, das emotionalste Marktsegment

Über Reiseenduros kann man herrlich streiten, denn jeder Motorradfahrer hat seine eigenen Ansichten, wie deren Kompromiss am besten ausgeführt sein sollte. Eine Mehrheit liebt BMWs R 1200 GS, die ihren Kompromiss irgendwo zwischen Tiger und Ténéré findet. Kaum jemand würde die Honda CRF 250 L überhaupt in Betracht ziehen als Reiseenduro. Das liegt wahrscheinlich hauptsächlich daran, dass die Emotion "ich mach's zwar nicht, aber ich könnte" das Kaufverhalten so stark beeinflusst. Die planbare Tankreichweite der 250er von 150 bis 160 km nervt, wenn man 500+ km am Tag abspulen will. Es hat sich aber gezeigt, dass man das nicht mehr will, wenn ein relevanter Anteil der Strecke aus Schotterwegen besteht. Plötzlich ist die Tankreichweite der Honda nicht mehr das limitierende Element, sondern die Masse des Tigers. Überhaupt ist die Menge derer, die noch solche Tagesetappen fahren, verschwindend gering geworden.

Die letzte Etappe der Tour sah so aus: Wir standen in dichtestem italienischen Stadtverkehr, dem ich mich mit der KTM sofort anpasste: Die Rollerspur ist überall, wo man durchpasst. Ich drehte mich um. Da war die Honda. Wo war der Tiger? Weg. Mir fehlte noch das Zieleinlaufbild an irgendeinem Strand, aber das konnte ich zur Not auch allein mit der KTM schießen. Deshalb war ich froh, als Tiger und Ténéré schon vorab zurückfuhren zu unserem Nachtlager. In unter 20 Sekunden erreichten wir auf Honda und KTM das Meer, passend zur Tour an einem Schotterstrand. Mir fiel das Racing-Zitat ein: "If you want to finish first, you have to finish first."

Testsieger für Hotelparkplätze

Am nächsten Tag fuhren wir alle in einem Rutsch zurück nach Deutschland, das waren für den Tiger über 1000 km. Easypeasy. Die Tanketappen der Honda nervten. Die optimale hypothetische Reiseenduro wäre eine Honda CRF 450 L mit 250 km Tankreichweite. Aber in der Realität, bei den existierenden Produkten? Naja, ich sah einen Hänger voll BMW R 1200 GS gen Alpen schippern und dachte mir: Ihr habt die falschen Moppeds dabei. Mein Reiseendurovergleichstest zeigt eindeutig: Die beste Reiseenduro für Leute, die mit Hänger reisen, ist die Honda CRF 250 L. Für diese Kunden gibt es einen Toptipp: Hänger kaufen, zwei der Dinger kaufen, falls was kaputt geht, gebrauchtes Zugfahrzeug kaufen, immer noch unter dem Preis der Tiger bleiben. Dann klappt's auch mit dem Hotelparkplatz.