Torque Vectoring mit Lamellenkupplungen am Beispiel GKN Twinster

Differenzial 2.0

Seit 20 Jahren funktionieren Torque-Vectoring-Systeme bemerkenswert gut, um das Lenkverhalten zu verbessern und Fahrzeuge länger in sichereren Fahrzuständen zu halten. Wir sehen uns ein aktuelles System an

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alternative Antriebe, Antriebstechnologie 8 Bilder
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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Arjeplog (Schweden), 3. März 2016 – Meine erste Begegnung mit der Nachfolgetechnik guter Achsdifferenziale war bei der ersten Testfahrt des VW Golf GTI, Generation 7, im Frühjahr 2013. Anstatt eines herkömmlichen Differenzials oder eines Sperrdifferenzials verbaute Volkswagen in der "Performance"-Ausstattung zwei Lamellen-Ölbadkupplungen und ein Steuergerät, das sich sehr intensiv mit der Motorbox unterhielt, um möglichst feinfühlige Entscheidungen darüber zu treffen, auf welche Abtriebswelle wie viel Drehmoment gelegt werden sollte. Das System sorgte für ein bemerkenswert gutes Fahrverhalten, denn es eliminierte auf Zug gebracht fast jegliches Untersteuern. Der GTI fuhr damit wie an einem Seil auf Schienen entlang gezogen aus den Ecken. Da es mittlerweile eine ganze Reihe von mit solchen Systemen ausgestattete Serienautos auch in bezahlbaren Segmenten gibt, haben wir uns das "Twinster" genannte Produkt des großen Zulieferers GKN näher angeschaut.

Reaktionszeit 10 ms

Die Konstruktion des Endantriebs ist einfach: Es ist der seit den Anfangstagen der Automobiltechnik vertraute Winkeltrieb aus Tellerrad und Kegelrad, jedoch ohne Differenzial im Tellerrad. Jede der beiden Ausgangswellen, die zu den Antriebswellen (und damit zu den angetriebenen Rädern) führen, ist geteilt und kann durch eine Mehrscheibenkupplung angekoppelt werden. Die beiden Kupplungen werden durch Federdruck offen gehalten. Presst ein ringförmiger Hydraulikzylinder die Kupplungsscheibensätze (seitenweise) zusammen, wird Kraft übertragen. Eine elektronische Regelung des hydraulischen Drucks steuert die Kupplungen von ganz offen bis komplett geschlossen, je nachdem, wie viel Drehmoment je Seite maximal übertragbar ist. Im Demonstrationsfahrzeug Range Rover Evoque waren es zum Beispiel 1250 Nm pro Seite, die Achse überträgt hier also im günstigsten Fall 2500 Nm insgesamt. Die Steuer-Software verarbeitet Raddrehzahlen, Lenkradwinkel, Dreh- und Beschleunigungsraten der Inertialsensoren sowie Motorparameter, um im Ergebnis eine ideale Drehmomentverteilung einzustellen. Die elektronische Reaktionszeit des Steuergeräts liegt dabei bei etwa 10 ms, die komplette Reaktionszeit inklusive Hydraulik bei typischen Stellvorgängen um die 100 ms, von ganz offen bis ganz zu dauert ein Stellvorgang etwa 300 ms.

Kein Ölwechsel

Damit Kunden, Werkstätten und die Hersteller das System gut annehmen, hat GKN das System wie ein offenes Differenzial als Lebenszeitbauteil ausgelegt. Das heißt: Es ist im Wartungsplan nicht vorgesehen, jemals das Schmier- oder Hydrauliköl oder die Scheibensätze der Lamellenkupplungen zu tauschen. Das ist nur nötig, wenn etwas kaputt geht. Wer Motorrad fährt, weiß, dass eine Ölbad-Lamellenkupplung bei guter Behandlung ewig halten kann. Die Regel-Software behandelt die Lamellen genau so. Die geplante Lebenszeit-Laufleistung liegt je nach Beanspruchung und Fahrzeug zwischen 150.000 und 250.000 Kilometern, gab GKN auf Nachfrage an. Dann muss das Differenzial überholt werden.

Da das System stets weiß, wie viel Drehmoment es gerade überträgt, errechnet es aus diesen Daten und der Umgebungstemperatur ein Temperaturmodell, um Überhitzungen vorzubeugen. Tritt so ein Fall ein, schließen die Kupplungen zunächst, um das Auftreten weiterer Reibungshitze zu vermeiden. Das Auto fährt dann also kurz mit fest verbundener Hinterachse. Hilft das nicht, öffnen die Kupplungen als Notlösung komplett, bis das System über die Umgebungsluft und das Fahrzeugchassis genug Wärme abgegeben hat, um mit sicherem Betrieb fortzufahren. Es gibt in der Praxis schon ein gutes Beispiel für einen Extrembetrieb: Ford hat den hochgelobten neuen Focus RS mit GKNs Twinster an der Hinterachse ausgestattet, der bei bisherigen Tests fahrerischem Missbrauch gut trotzte, so als erster Datenpunkt für Rennstrecken-Fans. Aus den Daten des Temperaturmodells errechnet das Steuergerät über die Zeit zudem ein Verschleißmodell. Das soll sicherstellen, dass die Stellgenauigkeit über die Lebenszeit möglichst konstant bleibt.

Play the Wild Rover

GKN hat als Demo-Fahrzeug den Range Rover Evoque ausgesucht, weil Jaguar / Land Rover dort seit dem 2014er-Modell GKNs Twinster an der Hinterachse im Paket "Active Driveline" anbietet. Zu dieser Torque-Vectoring-Hinterachse gehört auch eine Hinterachsabschaltung, die beim Cruising auf guter Strecke über 35 km/h beide Umlenkgetriebe abkuppelt und die Kardanwelle abbremst, um die dortigen hohen Verluste zu vermeiden. Da das Tellerrad der Umlenkung auch das Öl für die Kupplungen fördert, laufen die Kupplungen bei abgeschaltetem Hinterradantrieb sehr leicht, nur gebremst von Luft, bei unter 1 Nm Schleppmoment pro Seite.

Der normale Allradantrieb des Evoque arbeitet mit offenen Differenzialen. Bei signifikanten Drehzahldifferenzen auf einer Achse bremsen hier die ESP-Servos das durchdrehende Rad über die Betriebsbremse ein, um Drehmoment über das Differenzial auf das Rad mit Traktion zu zwingen. Das verbraucht Leistung, Reifen, Treibstoff, Bremsbeläge und kann zu unerwünschten Fahrzuständen führen. Auf dem Testgelände gab es zum Beispiel einen Hang mit Reibwert-Splits zwischen den Spuren: eine Fahrzeugspur fährt über glatten Schnee, die andere über beheizten Asphalt.

Wenn der Standard-Evoque auf diesem Testhang anfährt, drehen die Räder auf dem Schnee durch. Ich musste also so viel Gas geben, dass die ESP-Servos einspringen, an den durchdrehenden Rädern Kraft in der Bremse verheizen, damit ein bisschen Drehmoment auf die Räder mit Traktion gelangt. Oben auf der Kuppe dann kam der Wagen mit schnell drehenden Rädern auf der linken Seite an. Ich musste sofort das Gas wegnehmen, weil geradeaus ein Abhang war (die Abfahrt ging links herum). Das trieb das Automatikgetriebe in eine so tiefe Verzweiflung, dass sein Steuergerät abstürzte und nur durch einen kompletten Neustart des Fahrzeugs zur Weiterarbeit bewegt werden konnte – der routinierten Reaktion des Entwicklungsfahrers auf dem Beifahrersitz nach zu urteilen ein häufiges Problem. Das sind aber Dinge, die auch Endkunden im Skiurlaub durchaus begegnen können.

Der Schwesterwagen mit Active Driveline dagegen fuhr am Hang ohne Drama beliebig langsam kontrolliert an. Nur an der Vorderachse kronkte das ESP noch ein, zwei Mal, weil dort weiterhin ein offenes Differenzial arbeitet. Die Hinterachse schob den Wagen ohne Durchdrehen und heulenden Motor den Hang hoch. Da die merkwürdigen Fahrzustände entfielen, stürzte auch die Getriebesteuerung nicht ab. Auch die Minderheit der Kunden, die ihren Evoque über Offroad-Kurse steuern wollen, hätten hier also einen für ihre Wünsche deutlich besser geeigneten Hinterachsantrieb.

Und was ist auf Asphalt?

Im normalen, rollenden Fahrbetrieb unterstützt Twinster durch Torque Vectoring den Lenkvorgang. Das Fahrzeug lässt sich dadurch spürbar einfacher steuern, vor allem jedoch reduziert die definierte Unterstützung des Systems die Anzahl der ESP-Eingriffe massiv. Es spart also Bremsen, Treibstoff, Nerven und es hält den Fahrzustand länger in potenziell sichereren Bereichen. Der Twinster verteilt dabei sowohl Antriebs- als auch Schleppmoment lenkunterstützend oder stabilisierend zwischen den Seiten. Wir fuhren auf Schnee, die Erfahrung mit solchen Systemen zeigt aber, dass die Handling-Unterstützung des Torque Vectoring auch auf trockenem Asphalt stark genug auftritt, dass sie dem Fahrer auffällt.

GKN präsentierte bei dieser Gelegenheit auch die Kombination des Twinster-Systems mit ihrem E-Antrieb für die Hinterachse, der für Autos mit Verbrenner-Frontantrieb gedacht ist. PSA verwendet diesen E-Antrieb ohne Twinster zum Beispiel seit einiger Zeit in ihren Diesel-Hybrid-Modellen, Volvo verbaut eine stärkere Version im aktuellen Volvo XC90. Wie bei PSA treibt auch bei den Schweden der Dieselmotor nur die Vorderräder an. Die Hinterräder treibt der Elektromotor über ein Eingang-Untersetzungsgetriebe an. Es gibt keine mechanische Kopplung beider Achsen mehr außer die der Straße. Übersteigt die Raddrehzahl den sinnvollen Bereich des E-Motors in der Gegend von 120 km/h, kuppelt ihn eine Klauenkupplung komplett von der Hinterachse ab. Dasselbe passiert, wenn der Permanentmagnet-Motor nicht geschleppt werden soll, zum Beispiel beim Abschleppen des Autos.

Zu interessant für ein Familienauto

Statt eines offenen Differenzials und der Klauenkupplung bietet GKN ihren E-Antrieb für die Hinterachse mit den beiden Torque-Vectoring-Kupplungen an. Bisher gibt es noch kein Serienfahrzeug, dass den "eDrive Twinster" getauften Antrieb verwendet, GKN hat aber einen Volvo XC90 zum Vergleich damit ausgestattet. Der 60-kW-Elektromotor legt über ein zehnfach übersetztes Getriebe maximal 2400 Nm an die Achsen, was der Auslegung der Kupplungen entspricht. Wie bei den Systemen in Evoque oder Focus RS verteilen die beiden Kupplungen Antriebs- und Schleppmomente so auf die Abtriebswellen, dass der Fahrer beim Lenken unterstützt wird und länger außerhalb des ESP-Regelbereichs bleibt.

Um zu zeigen, was das System kann, hatten es GKNs Ingenieure jedoch auf Werte eingestellt, die Volvo so wohl nie im Familienauto XC90 verkaufen würde, weil sie zu interessant sind. Erstens verbesserte sich wie beim Evoque das Handling des XC90 frappant; das nicht abschaltbare ESP griff viel seltener ein. Wirklich erstaunlich war jedoch, dass dieser Elefant von Auto plötzlich 180° des großen Schnee-Kreisverkehrs im Drift fuhr, sobald man ihn sanft dazu aufforderte. Es war, als würde Ottfried Fischer plötzlich im Staatsballett tanzen wie ein junger Russe.

Letztendlich zeigt der Evoque genauso wie der Elefant oder der RS dasselbe: Diese Torque-Vectoring-Systeme sind auch guten mechanischen Sperrdifferenzialen fahrtechnisch überlegen, ESP-simulierten Differenzialsperren sowieso. Denn ESP oder das Torsen-Differenzial korrigieren einen Fehler, der bereits passiert ist. Systeme wie der Twinster dagegen agieren schon im Voraus. Sie vermeiden Traktion stehlende Fehler. Sie machen also nicht nur sicherer, sondern auch schneller. Da es Torque Vectoring im Großserienbau jetzt seit 20 Jahren gibt, interessieren uns auch Langzeit-Erfahrungen der Leser mit der Funktion über die Zeit und die Laufleistung. Schreiben Sie Ihre Erfahrungen an autos@heise.de.