Arbeit: Die neue digitale Landlust

Seite 2: Büro im Fachwerkhaus

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Julian Schmelzle stößt der Runde hinzu. Er arbeitet als Kameramann für Fernsehbeiträge sowie Kameraassistent bei Kino und Fernsehproduktionen. Gerade hat er zusätzlich eine Innendesignfirma gegründet und fertigt handgemachte Möbel und Accessoires. „Dank der günstigen Lebenshaltungskosten habe ich endlich die Freiheit, meine Energie in das Start-up zu stecken und nicht immer die Sorge im Nacken, dass ich auch die hohe Miete zahlen muss“, sagt er. Dass die Neu-Homberger all das erzählen, erfüllt Initiator Jonathan Linker mit Freude.

Damit sie nicht nur Neu-Homberger heißen, sondern auch werden, versucht die Initiative die Neuankömmlinge aktiv zu integrieren. Tocha, Jessen, Schmelzle und die anderen Pioniere wollen ihr Wissen in Homberg unters Volk bringen. Es war sogar die Bedingung für ihren Besuch in Homberg, dass sie den Menschen vor Ort Hilfestellung geben, zum Beispiel in Sachen Online-Marketing. Auf dem Homberger Marktplatz hat die Initiative ein „Outdoor“-Office eingerichtet, um mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. Über ein Whiteboard können sie die Neuankömmlinge befragen und bekommen Antworten. Der selbstgezimmerte Kubus samt passender Stühle sieht zwar hip aus, in der historischen Innenstadt mit seinen schiefen, bunten Fachwerkhäuschen und zwischen den mit Papier verklebten Schaufenstern wirkt er allerdings eher wie ein Fremdkörper.

„Fachwerkerei“ wurde der Coworking Space getauft, der anlässlich des Summer of Pioneers in Homberg in einem historischen Fachwerkhaus in einem ehemaligen Ladenlokal entstanden ist. Die Pioniere unterstützen die Konzeptentwicklung mit dem Ziel, hier langfristig ein Coworking-Angebot zu etablieren.

(Bild: Jonathan Linker)

Dennoch: „Ich spüre hier viel Offenheit und Mut, Neues auszuprobieren“, sagt Linker. Attribute, die der etwas verschlafenen Kleinstadt wieder neues Leben einhauchen sollen. Seine Mission ist eine Art moderne Wirtschaftsförderung. „Ich glaube sogar, dass auf dem Land gerade mehr passiert als in so mancher Großstadt. Durch die greifbar gewordenen Chancen der Digitalisierung herrscht Aufbruchstimmung und durch günstige Mieten und offene Ohren entsteht hier gerade ein Momentum, das nötig ist, um auch jene Ideen zu testen, von denen man noch nicht genau weiß, ob sie funktionieren werden.“

Jessen ist überzeugt von dem Ansatz und hat gleich als er in Homberg ankam und die Wohnung in einem Fachwerkhäuschen mit niedrigen Decken bezogen hat, seinen ersten Wohnsitz hierher verlegt: „So bezahle ich auch hier meine Steuern, sonst hat die Kommune ja nichts davon, dass sie uns hier günstig Wohn- und Büroräume zur Verfügung stellt.“

In Homberg baut die Initiative „Summer of Pioneers“ Infostände in der Stadtmitte auf, um über die Möglichkeiten für Wissens- und Digitalarbeitende in der Kleinstadt zu informieren.

(Bild: Jonathan Linker)

Soviel praktische und monetäre Solidarität kann Homberg gut gebrauchen. Die Einwohnerzahl sank knapp drei Jahrzehnte lang, rund 14 000 Einwohner hat der Ort noch. Die Alten sterben, die Jungen sind weggezogen, da ihnen die Megatrends Globalisierung und Digitalisierung die Lebensgrundlage entzogen haben. Die Folgen für die ländlichen Regionen ohne Anbindung an den nächsten Speckgürtel sind bekannt: sinkende Steuer- und Gewerbeeinnahmen, kein Geld für Schwimmbäder, Turnhallen, Schulen. Rentner dominieren das Vereinsleben, bei der freiwilligen Feuerwehr gibts Nachwuchsprobleme. Wer in ländlichen Regionen zum Arzt muss, braucht im Durchschnitt 50 Prozent mehr Fahrtzeit als in der Stadt. Die Wirtschaftsleistung beträgt hier im Vergleich zu den Ballungsräumen nur zwei Drittel. So steht es im dritten Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume aus dem Jahr 2020.

Dass dieses Schicksal der ländlichen Regionen kein Naturgesetz ist und Initiativen wie die Linkers ein Ausweg sein können, belegt eine Studie des Berlin Instituts: Wo es schon Wohnprojekte und Kreativorte gibt, haben es Nachzügler leichter. „Platz und Freiräume gibt es auf dem Land im Überfluss, während das Leben in den Städten immer beengter und teurer wird“, weiß Susanne Dähner vom Berlin Institut. Dähners Studie kann man als Plädoyer dafür verstehen, um die Zuzügler zu werben. Mehr noch: „Einige Menschen finden auf dem Land mehr Chancen, auch beruflich. In Berlin sind gerade viele Digitalarbeitende mit ihren Dienstleistungen nur einige von vielen.“ Auf dem Land seien die aber rar. „Mit ihrem Know-how können sie da wirklich noch was bewegen.“