Arbeit: Die neue digitale Landlust

Die ländlichen Regionen in Deutschland sind gegenüber Ländern wie den USA oder Frankreich strukturell besser aufgestellt. Reicht das, um die Wende zu bringen?

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Marian Gaebler ist Softwareentwickleraus Hamburg, Johanna Heide arbeitet für die Nachrichtenagentur AP in Berlin. Beide setzen ihre Arbeit von Homberg aus ohne Einschränkungen fort und genießen die Nähe zur Natur.

(Bild: Jonathan Linker)

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Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Katharina Heckendorf
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Vorbei an blühenden Rapsfeldern, vorbei an einem Kreisel, von dem eine Abzweigung direkt auf den angrenzenden Acker läuft – das ist der Weg ins nordhessische Fachwerkstädtchen Homberg an der Efze. Diese Geschichte könnte nun erzählen, dass auf dem Weg ins Zentrum jedes dritte Ladengeschäft leer steht, dass am Marktplatz-Brunnen schon am späten Vormittag Menschen zusammen Bier trinken, obwohl es ständig kurz regnet.

Diese Geschichte erzählt aber davon, dass Homberg in dieser Woche im Mai so viele neue Bewohner gewonnen hat, wie schon lange nicht mehr. Der Grund dafür ist der sogenannte Summer of Pioneers, eine Initiative, die 20 Digitalarbeiter aus Metropolen – etwa aus Berlin oder Frankfurt – für sechs Monate zum Probewohnen in die Kleinstadt eingeladen hat. Die Initiative soll den Menschen, die bisher in der Großstadt zu Hause waren, das Landleben derart schmackhaft machen, dass einige von ihnen bleiben. Sie sollen die Region mit ihren Einkommen, ihrem digitalen Know-how und ihren Ideen bereichern. In vier Kleinstädte mit einer ähnlich schwachen Struktur wie Homberg haben die Initiatoren Jonathan Linker und Frederik Fischer bereits Digitalarbeiter gelockt.

Aber können ein paar „Pioniere“ den Abwärtstrend in Orten wie Homberg herumreißen? Der globale Blick spricht dagegen: Investitionen in Innovationen auf dem Land sind rar. Es sind in der Regel wenige große Städte und deren unmittelbare Umgebung, wo Top-Forschungseinrichtungen und große Unternehmen zu Hause sind, zeigt eine Studie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019. In den USA war San Francisco mit gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung für rund 15 Prozent der Patentanmeldungen verantwortlich. In Frankreich vereint allein Paris knapp 47 Prozent aller Patentanmeldungen auf sich.

Und das obwohl die Digitalisierung überall da einen Zugang zu Wissen und Daten ermöglicht, wo eine Internetleitung liegt. In Deutschland ist der Trend schwächer ausgeprägt: München und Stuttgart führen zwar mit jeweils rund vier Prozent aller deutschen Patentanmeldungen das Feld an. Dank mittelständischer Wirtschaftsstruktur gibt es Steuereinnahmen und Arbeitsplätze hier nicht nur in den Zentren. Und Instrumente wie Solidarpakt, Länderfinanzausgleich oder EU-Strukturförderung verteilen Gelder gezielter von reichen in ärmere Regionen um.

Dennoch verläuft in Deutschland ein Graben zwischen urbanen und digitalen Zentren und den ländlichen, früher häufig industriell geprägten Regionen. Zwischen Großstädten, in denen individuelle Lebensläufe und Experimente zelebriert werden und Dörfern und Kleinstädten, in denen Tristesse herrscht und sich ein Gefühl der Abgehängtheit breitmacht. „Die hochgebildeten, mobilen Menschen ziehen zu den Top-Firmen in die Städte, die hohe Löhne zahlen können“, sagt Jens Südekum, Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie an der Heinrich-Heine-Universität und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Es sei ein sich selbst verstärkender Effekt: Will eine Firma qualifizierte Leute finden, braucht sie einen Standort in den Metropolen. Wollen die Arbeitskräfte Zugang zu einem bunten Blumenstrauß gut bezahlter Jobs, müssen sie ebenso dahin. „Das gilt gerade für die wissensintensiven Dienstleistungen, die auf dem Vormarsch sind, etwa aus der IT-Branche. Die sind tendenziell urban geprägt, anders als die klassischen Industriejobs“, sagt Südekum.

Jonathan Linker und seine Pioniere sehen allerdings genau darin eine Chance für die ländlichen Regionen, auch wenn das zunächst widersprüchlich klingt. Es sei die Chance, dass aus dem „immer weniger“ auch wieder ein „mehr“ werden könnte, indem Vorteile wie günstige Mieten, naturnahes Leben und ein ruhiges Umfeld stärker in den Vordergrund rücken. Ob das gelingt, wird im Wesentlichen von der Entwicklung der digitalen Infrastruktur abhängen.

„Das Internet geht nicht“, schallt es durch ein ehemaliges Ladengeschäft in einem der Fachwerkhäuser direkt am Homberger Marktplatz. Das ist keine Überraschung auf dem Land. Und trotzdem sitzen nun ein Dutzend der Teilnehmer des Summer of Pioneers in diesem Raum, der nun als Co-Working-Space genutzt wird und geben dem Ort eine Chance als Arbeitsplatz. Was ist es, dass diese Menschen hierher gelockt hat? Zwischen Monsteras, hippen Erfrischungsgetränken und einer freigelegten Backsteinmauer im Hintergrund erklärt das die UX-Designerin und Texterin Cornelia Tocha so: „Mit Corona habe ich in Berlin keine coolen Events und Veranstaltungen mehr erlebt, sondern vor allem Enge“, erzählt sie. „Und im Alltag fehlt mir das gemeinsame Kreieren und Ideen entwickeln. Mit Wanderungen, Lagerfreuer oder Wein am Marktplatz finde ich hier die Gemeinschaft, die mir in der Stadt zuletzt fehlte.“ Durch die kurzen Wege zwischen Büro, Wohnung, Freibad oder Wochenmarkt passe sogar mehr in ihren Tag rein, erzählt sie.

Eine Argumentation, der immer mehr Menschen folgen – der generelle Trend zum Zug in die Städte bröckelt. Vor allem die Corona-Pandemie hat dafür gesorgt, dass die Vorzüge des städtischen Lebens fast ausnahmslos versiegst sind. Plötzlich steigen die Immobilienpreise in den Speckgürteln stärker als in so manchem Zentrum. Sogar in den entlegensten Winkeln des Landes werden Immobilien zu günstigen Preisen seltener. Die große Umzugswelle von den Städten aufs Land lässt noch auf sich warten, „eine Trendwende ist jedoch wahrscheinlicher geworden“, sagt Susanne Dähner, Geografin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin Institut. Dieses hat für die Studie „Digital aufs Land“ mit der Wüstenrot Stiftung mehr als 50 neue Arbeitsorte auf dem Land untersucht, wie Gemeinschaftsbüros, neue Wohnkonzepte, junge Digitalunternehmen und kulturelle Initiativen. Ergebnis: Sie beleben die Gemeinden.

Den unabhängigen Selbstständigen bieten sich mehr Möglichkeiten, ihnen spielt der Trend zu mehr Homeoffice im klassischen Angestelltenverhältnis in die Hand – ebenfalls ein direkter Corona-Effekt. Denn Homeoffice setzt sich auch in den nicht so fortschrittlichen Unternehmen derart durch, dass viele Mitarbeitende nicht länger jeden Tag ins Büro müssen. Das freut auch so manche Firma angesichts der hohen Gewerbemieten in den Zentren. Eine Umfrage der ZEIT vom Juni 2021 ergab zum Beispiel, dass 13 Prozent der Dax-Konzerne bereits Büroflächen reduziert haben oder dies für die Zukunft planen. Zunehmend ist es also möglich, einen Wohnort auszuwählen, der abseits vom Firmensitz liegt, solange die Internetverbindung ein Zoom-Gespräch ermöglicht.

Egal ob selbstständig oder angestellt – der Knackpunkt ist eine gute digitale Infrastruktur. Die Realität ist allerdings ernüchternd: Teilweise hat nicht mal jeder zweite Haushalt einen guten Internetanschluss. In knapp einem Fünftel der ländlichen Haushalte wird es eng in der Datenleitung, zumindest, wenn im Haushalt mehr als eine Person lebt oder sogar noch Kinder Home-Schooling bestreiten müssen. Denn sie hatten Ende 2019 keinen Zugang zu 16 Mbit/s oder mehr. Hat es früher ausgereicht, wenn die Internetverbindung schnell genug war, dass die Bewohner E-Mails verschicken und empfangen konnten, brauchen Unternehmen für einen geschmeidigen Homeoffice-Einsatz stabile und schnelle Leitungen, etwa für Videokonferenzen oder andere datenintensive Anwendungen. Bei Jonathan Linker zu Hause wurde die Glasfaserleitung an seinem Haus vorbeigelegt. Schnelles Internet hat er dank eines mehrere Tausend Euro teuren Satelliten. So könnte die schleppende Digitalisierung Initiativen wie in Homberg ad absurdum führen.

Während die Pioniere im Homberger Co-Working-Space auf die Stabilisierung ihrer Internetleitung warten, wippt Tech-Seriengründer Jörg Jessen in seinem Schreibtischstuhl auf und ab und erzählt, was ihn umtreibt: „Ich komme nicht von Innovationen los“, sagt er. Mit seinem neuesten Start-up-Projekt will er einen digitalen europäischen Personalausweis auf den Weg bringen. Ihn lockte hier die Natur. Das Wandern am Wochenende sei toll gewesen, schwärmt er. Begeisterung, obwohl er „bis auf die Unterhose“ nass gewesen sei. Und dann gäbe es ja noch den verwilderten Schrebergarten, den sie nun gemeinsam bewirtschaften wollen.