Bonus für brave Bürger

China arbeitet an einem umfassenden Kontrollsystem, das die digitalen Spuren seiner Bürger erfasst und bewertet. Wer sich an die Regeln hält, bekommt Pluspunkte.

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Von
  • Tomas Rudl

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen: Bis 2020 will China ein umfassendes "Social Credit System" aufbauen, das jedem Bürger, jedem Unternehmen und jeder Behörde eine Bewertung verpasst. Wer genug Reputation sammelt, darf sich über billigere Kredite, Karrieremöglichkeiten oder andere Annehmlichkeiten freuen. Jene hingegen, die sich nicht an die Regeln halten, müssen mit Nachteilen rech-nen – für sich und gegebenenfalls auch für ihre Kinder, die vielleicht nur eine schlechtere Schule besuchen dürfen als die gewünschte.

TR 9/2017

Unheimlich? Nicht für Chinas Regierung. Denn das Regime sieht in dem Schritt die Chance, gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Mit dem geplanten Bewertungsschema will China wieder Vertrauen herstellen in ein Staatssystem, das zunehmend unter Korruption, Intransparenz und der Erosion von Institutionen leidet. Was also eigentlich genuine Aufgabe des Staates ist, lässt sich Chinas Regime teuer bezahlen: mit der Preisgabe intimster Daten und der Möglichkeit, das Leben der Untergebenen zu lenken. Hinzu kommen wirtschaftliche Überlegungen.

Bislang benutzen nur vergleichsweise wenige Bürger Kreditkarten oder nehmen Hauskredite auf. Ein Rating-Mechanismus wie der Schufa-Score in Deutschland, mit dem sich die Kreditwürdigkeit einstufen lässt, hat sich deshalb nicht entwickelt. Der Social Score soll diese Lücke nun schließen.

Füttern sollen ihn nahezu alle digitalen Spuren, die Chinas Bürger hinterlassen. Mehr als 700 Millionen Nutzer tummeln sich mittlerweile auf Online-Plattformen wie Weibo, wo sie ihr Privatleben ausbreiten. Gut 400 Millionen Chinesen bezahlen regelmäßig mit ihrem Mobiltelefon über den Finanzdienstleister Alipay, den weltgrößten Anbieter von Online- und Mobilabrechnungen. Und immer mehr Städte installieren intelligente Videoüberwachungssysteme, um ihre Einwohner auf Schritt und Tritt zu verfolgen. All diese Datentöpfe will die Regierung künftig anzapfen, auswerten und dazu heranziehen, jeden ihrer gut 1,4 Milliarden Landsleute in eine Bewertungskategorie zu stecken.

Zwar ist das Mammutprojekt noch Jahre von der Fertigstellung entfernt, und es ist unklar, wie umfassend es ausfallen wird. Doch Pilotprojekte in einzelnen Städten und Wirtschaftszweigen weisen den Weg in eine Zukunft, die aus einem dystopischen Roman stammen könnte. So stellen etwa einige Städte Bürger an den öffentlichen Pranger, wenn sie zu oft bei Rot über die Straße gegangen und dabei von Kameras ertappt worden sind, die automatisch Gesichter erkennen können.

Die Handelsplattform Alibaba wiederum ermuntert ihre Nutzer dazu, ihr Einkaufsverhalten mit "Sesame Credit" protokollieren zu lassen. Gut bewertete – und damit vertrauenswürdige – Personen müssen dann eventuell keine Kaution hinterlegen, wenn sie sich ein Auto leihen, oder sie ersparen sich lästige Sicherheitschecks am Flughafen.

Der ermittelte Score soll jedoch weit mehr abbilden als bloß die Information, ob jemand pünktlich seine Rechnungen bezahlt. Wer sich als offenbar verantwortungsvoller Bürger erweist, weil er Windeln für seine Kinder kauft, erhält eine bessere Bewertung als jemand, der sich vorrangig für Videospiele interessiert. Der Score lässt sich auch auf Baihe einblenden, einer Dating-Plattform, die wie Alipay zu Alibaba gehört. Gut 15 Prozent der Nutzer nehmen das Angebot an.

Um die vereinzelten Lösungen zu einem einheitlichen nationalen Score zu vereinen, will die chinesische Nationalbank die Unternehmen nun dazu bewegen, ihre gehorteten Daten mit Konkurrenten auszutauschen. Ihr Druckmittel sind die für den Betrieb der Ratingsysteme nötigen Lizenzen. Erst kürzlich hat sie entschieden, jene von Alipay und anderen Dienstleistern nicht zu verlängern, weil die Unternehmen zu wenig Austausch ermöglichen. Die Nationalbank sah zudem Interessenkonflikte. Denn die Finanzdienstleister vergeben nicht nur die Kredite, sondern nehmen auch die Bewertung vor, anstatt sich bei einer unabhängigen Quelle zu bedienen.

Die Bevölkerung scheint erstaunlich wenig gegen die Überwachung zu haben. Größere Proteste gibt es nur, wenn die Machthabenden sich allzu deutlich bevorteilen. In der östlichen Provinz Jiangsu etwa wurde ein 2010 gestartetes Pilotprojekt vorerst auf Eis gelegt. Mit "A" benotete Bürger erhielten dort Hilfe von der regionalen Verwaltung, etwa wenn sie ein Unternehmen gründen wollten.

"D-Bürger" mussten dagegen mit Schwierigkeiten rechnen, Sozialleistungen oder einen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Daten werden zwar weiterhin gesammelt. Aber bis auf Weiteres nutzen die Behörden sie nicht mehr für eine Kategorisierung. Einer der Gründe: Beamte waren von der Überwachung ausgenommen. Das erschien den Bürgern dann doch etwas ungerecht. (bsc)