Covestro: Zucker statt Erdöl

Lange war die chemische Industrie nicht gerade eifrig beim Thema grüne Kunststoffe. Nun aber macht Covestro ernst und will Millionen Tonnen auf pflanzlicher Basis herstellen.

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Von
  • Rainer Kurlemann

Zum vierten Mal kürt Technology Review die 50 innovativsten Unternehmen des Jahres. Das entscheidende Kriterium für die Auswahl: bahnbrechende Ideen und wegweisende Fortschritte. Hier schreiben wir, warum es diese Firma unter die Top-50 geschafft hat.

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Kaum jemand kennt Anilin. Dabei ist die Flüssigkeit ein Massenprodukt. Weltweit werden jedes Jahr mehr als vier Millionen Tonnen produziert. Es dient als Grundstoff zur Herstellung von Polyurethanen, steckt in Reifen, Farben, Pigmenten und Fasern. Bisher ist Anilin ein typisches Produkt der Petrochemie, es wird meist aus Benzol hergestellt.

TR 9/2017

Aber der Chemiekonzern Covestro hat ein Verfahren gefunden, die Basischemikalie aus nachwachsenden Rohstoffen zu produzieren. Zwei kleinere Anlagen arbeiten bereits – eine in den Niederlanden, die andere in Leverkusen. Sie bestehen aus einem unscheinbaren Fermenter aus Metall. "Wir können damit pro Jahr bereits mehrere Hundert Kilogramm Bio-Anilin herstellen", erklärt Projektleiter Gernot Jäger. 2020 soll eine größere Pilotanlage in Betrieb gehen.

Die Covestro-Initiative hilft, ein Dilemma des Umstiegs auf erneuerbare Energien zu lösen. Wer Erdöl, Gas und Kohle ersetzen will, der benötigt mehr als einen neuen Treibstoff für Autos oder ökologische Energiequellen für Strom und Heizung. Auch die chemische Industrie muss den Anteil der fossilen Rohstoffe für ihre Produktion verringern.

Denn die Petrochemie liefert die Grundstoffe für Tausende Gebrauchsgegenstände und Alltagschemikalien. Kunststoffe spielen dabei eine zentrale Rolle. Eine Machbarkeitsstudie der Deutschen Akademie der Wissenschaften schätzt, dass bis zum Jahr 2030 Bio-Rohstoffe die Basis für ein Drittel der gesamten industriellen Produktion sein könnten. Doch die Chemiewende kommt nur langsam voran, weil viele Projekte sich mit Produkten beschäftigen, die in vergleichsweise kleinen Mengen produziert werden.

Covestro hat nun den großtechnischen Maßstab im Auge. Erstes aufsehenerregendes Projekt war ein neues Herstellungsverfahren für Kunststoffschäume, wie sie für Matratzen verwendet werden: Die Leverkusener verwenden das Treibhausgas Kohlendioxid als Rohstoff zur Produktion. Das Verfahren senkt den Ölverbrauch und verbessert die CO2-Bilanz des Endprodukts. Allerdings machen Kritiker geltend, dass der alternative Herstellungsweg mit einem höheren Energieverbrauch einhergehe. Dennoch zeigt das Beispiel: Die Firma meint es durchaus ernst mit der Chemiewende.

Mit Anilin soll nun eine wichtige Basischemikalie für Kunststoffe auf ökologische Weise im großtechnischen Maßstab hergestellt werden. Covestro entstand, als die Bayer AG ihre Chemie- und Kunststoffsparte 2015 als eigenständige Firma an die Börse brachte. Heute ist es mit einer Million Tonnen der weltweit größte Hersteller von Anilin. Künftig soll diese Menge Schritt für Schritt aus nachwachsenden Rohstoffen entstehen.

Als Ausgangsstoff dienen unraffinierte Zuckerlösungen. Sie entstehen, wenn Zellulose- und Stärkeketten in Mais, Holzabfällen oder Stroh mit Wasser versetzt und durch Säuren gespalten werden. Sie bilden sich auch beim Mahlen von Zuckerrüben oder Zuckerrohr. "Die Rohzuckerlösungen sind also bereits im industriellen Maßstab erhältlich", sagt Jäger.

Die Forscher benötigten vier Jahre vom Start des Projekts bis zu ersten praxistauglichen Verfahren. "Ich erinnere mich noch genau, wie wir am Anfang vor einem weißen Blatt Papier saßen", sagt Jäger. Zusammen mit der Uni Stuttgart, der RWTH Aachen und Bayer machten sie sich daran, es zu füllen. Zunächst wurden 50 verschiedene Synthesewege gesammelt. Vier davon schafften es ins Labor – und nur ein Verfahren in die Produktion. Bei diesem Verfahren wird die Zuckerlösung zunächst in einem Bioreaktor mit Ammoniak versetzt.

Dann kommen Mikroben hinzu, die sich von den Bestandteilen der Lösung ernähren. Sie stellen ein Zwischenprodukt her, das abgetrennt und gereinigt wird. Katalysatoren wandeln es schließlich in Anilin um. Covestro verwendet dafür einen gentechnisch veränderten Organismus, "der daraufhin optimiert ist, die Zwischenstufe sehr effizient herzustellen", sagt Jäger. Welcher es genau ist, bleibt allerdings geheim.

Viele ähnliche Projekte scheiterten bereits an der mangelnden Wirtschaftlichkeit. Jäger sieht diese Gefahr nicht. Er hält sich zwar mit Zahlen über die genauen Kosten zurück, sagt aber: "Wir würden es nicht machen, wenn wir nicht überzeugt wären, dass es konkurrenzfähig sein wird." Denn Covestro ist nicht nur der weltgrößte Hersteller der Chemikalie, sondern gehört auch zu den größten Abnehmern, weil es Anilin zu Polyurethan weiterverarbeitet. Der Preis und die Verfügbarkeit von Anilin haben daher großen Einfluss auf den Gewinn. Ein alternativer Herstellungsweg senkt die Abhängigkeit von Preisschwankungen auf den globalen Märkten.

Nachwachsende Rohstoffe haben jedoch noch einen weiteren Nachteil. Die riesigen Rodungen für Palmöl-Plantagen, um Biodiesel, Waschmittel und Kosmetikprodukte herzustellen, sind ein abschreckendes Beispiel. Zudem können sie den globalen Kampf um Ackerflächen verstärken.

Derzeit werden jährlich etwa 300 Millionen Tonnen Kunststoffe produziert. "Für die vollständige Umstellung der Ausgangsstoffe auf Bio-Basis würde man theoretisch nur etwa ein Prozent der heute global verfügbaren Ackerfläche benötigen", zitiert Jäger Berechnungen externer Institute.

(bsc)