Chemische Vergangenheitsbewältigung

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Das Argument, Chemikalienhersteller könnten ihre Drohung wahrmachen und nun Teile ihrer Produktion in Länder ohne Registrierungspflicht verlagern, hält Cleuvert für übertrieben. Er geht vielmehr davon aus, dass andere Länder, etwa die Schweiz, demnächst nachziehen werden. Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger, bekannt für seine ehrgeizigen Umweltpläne, soll bereits signalisiert haben, REACH in seinem US-Bundesstaat einzuführen, ebenso sechs, sieben weitere US-Gourverneure, so Cleuvert. In den USA ebenso wie in Japan entscheiden bislang – anders als in der EU – keine Mengenbänder darüber, ob zusätzliche Daten erhoben werden müssen, sondern ob ein Stoff biologisch abbaubar ist. Das hat zur Folge, dass dort seit den achtziger Jahren viel mehr neue Stoffe angemeldet werden konnten als in der EU.

Unbestritten ist allerdings, dass das neue europäische System einige Kosten verursacht. Während die für Großunternehmen „aus der „Portokasse“ gezahlt werden könnten, wie Cleuvert meint, ist die Belastung für mittelständische Firmen durch REACH nicht unerheblich. Das seien immerhin 90 Prozent der 1650 Unternehmen im Verband der Chemischen Industrie (VCI), sagt Verbandssprecher Manfred Ritz. „Wir haben Mittelständler, die an die 1000 Stoffe registrieren lassen müssen.“ Er schätzt, dass im Mengenband bis zu zehn Tonnen für die Registrierung eines einzigen Stoffes zwischen 20.000 und 40.000 Euro anfallen, zwischen zehn und hundert Tonnen schon bis zu 250.000 Euro. Zumindest können kleinere Unternehmen, die denselben Stoff herstellen oder importieren, eine Registrierung gemeinsam vornehmen und so die Kosten senken. In Mittelstandskreisen tröstet man sich damit, dass es noch schlimmer hätte kommen können.

Ritz bemängelt allerdings, dass mit REACH „ein enormes Bollwerk aus Vorschriften“ entstanden ist. Die Leitfäden für Unternehmen umfassten mehrere tausend Seiten. Im Prinzip sei die Verordnung eine „Vergangenheitsbewältigung“. Anders als Umweltorganisationen geht er davon aus, dass die Zahl der fälligen Registrierungsdossiers weit höher liegt als bislang angenommen: statt 30.000 rechnet er mit 80.000, weil nicht nur Einzelstoffe von REACH erfasst würden, sondern auch Zubereitungen aus mehreren Substanzen. Aber Ritz kann der Verordnung auch Positives abgewinnen: „REACH setzt die Standards für die Anmeldung von künftigen neuen Stoffen.“

Das große Schlachten im Namen des Verbraucherschutzes?

Bleibt noch die Frage, ob die EU für den Verbraucherschutz das große Schlachten von Versuchstieren in Kauf genommen hat, wie manche Tierschützer nach der Verabschiedung im Dezember monierten. „Man muss überhaupt nicht wesentlich mehr Tierversuche machen“, sagt Horst Spielmann, der am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) lange die Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch leitete. Der Toxikologe ist einer der führenden Forscher bei neuen Verfahren, chemische Substanzen in Zellkulturen auf toxische Wirkungen hin zu überprüfen. „Es geht bei REACH vor allem darum, in Unternehmen bereits vorhandene Daten aus alten Untersuchungen offen zu legen”, sagt Spielmann, der auch in einem REACH-Implementierungsgremium der EU arbeitet. Er schätzt, dass für 80 Prozent der fraglichen Stoffe schon Informationen vorliegen.