Chemische Vergangenheitsbewältigung

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Auch In-vitro-Verfahren zu Hautreizungen, die an Hautmodellen vorgenommen werden, liefern schneller und ohne Versuchstiere aussagekräftige Ergebnisse. Die Giftigkeit von Stoffen, die über die Mundschleimhäute aufgenommen werden, kann mit speziellen Zelllinien sogar von einem Roboter getestet werden. Dieses „High-Throughput-Screening” wird in der Pharma- und der Kosmetik-Industrie bereits seit längerem eingesetzt – für letztere gilt übrigens ab 2009 ein Vermarktungsverbot von Substanzen, die mithilfe von Tierversuchen entwickelt wurden. „Die Kosten solcher In-vitro-Verfahren belaufen sich beim Testen einer einzelnen Substanz auf 30 bis 50 Prozent der entsprechenden Tierversuche”, sagt Horst Spielmann.

Die so genannte 3R-Forschung für zuverlässige Verfahren, die Tierversuche reduzieren (reduce), verfeinern (refine) oder ersetzen (replace), hat weitere Kandidaten hervorgebracht, die derzeit validiert werden, bevor sie von der OECD als verantwortlicher Instanz anerkannt und damit zu internationalem Standard werden können. Bei Augenreizungstests seien derzeit zehn Verfahren in der Auswertung, sagt Spielmann, zwei von ihnen können bereits eingesetzt werden. Das gilt auch für Tierversuche zur Hautreizung, die durch Prüfung mit Hautmodellen in diesem Jahr vollständig ersetzt wurden. Für die Untersuchung auf krebserregende Wirkungen von Substanzen laufen zwei Studien, die 2008 abgeschlossen sein werden.

Dennoch lassen sich noch in nicht allen Gebieten der Toxikologie Tierversuche ersetzen. Für einige schädliche Wirkungen etwa gebe es derzeit keine Alternativen, sagt Patricia Cameron, REACH-Experten vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „In diesem Fall ziehen wir aber eine Laborratte einem ‚Freilandversuch’ an Menschen und Tieren vor.” Sie plädiert auch dafür, Testsreihen an Tieren dann zu beenden, wenn bereits in-vitro-Tests ein Gefährdungspotenzial belegen. „Die Industrie teilt unsere Position bisher aber nicht”, sagt Cameron.

Aus deren Skepsis spricht auch ein scheinbar unbegrenztes Vertrauen in die Aussagekraft von Tierversuchen. „Die Voraussagen aus Tierversuchen sind jedoch auch mit Vorsicht zu behandeln”, warnt Horst Spielmann. Die Ergebnisse aus Tierversuchen in der Schwangerschaft etwa seien nur begrenzt übertragbar. „Die Forschung hat zum Beispiel die Wirkung von Thalidomid bis heute nicht verstanden.” Das Schlafmittel, das von 1957 bis 1961 als „Contergan” vermarktet wurde, führte trotz Unbedenklichkeit in Tierversuchen an Ratte und Maus zu schweren Missbildungen bei Neugeborenen.

Dass die von REACH ausgelösten Chemikalientests wirklich ohne Tierversuche auskommen, erwartet allerdings keiner der Beteiligten. Sollten die derzeit entwickelten Alternativverfahren in den kommenden Jahren vollständig ausgeschöpft werden, ließe sich die Zahl der potenziell nötigen zusätzlichen Tierversuche aber um 60 Prozent verringern, schätzt eine Studie von Katinka van der Jagt von 2004. Horst Spielmann sieht die Aufregung um das mutmaßliche Schlachten im Namen von Umwelt und Gesundheit gelassen: „Aus meiner Sicht muss sich REACH nicht so schlimm auswirken, wie vielfach befürchtet wird.” (nbo)