Das Web sind wir

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Frühere Groupware-Programme, etwa zur Projektorganisation in Unternehmen, ordneten das Verhalten der Gruppenmitglieder dem jeweiligen Projektziel unter. Social Software funktioniert nach dem Bottom-up-Prinzip, also von unten nach oben: Die Nutzer verfolgen zunächst ihre eigenen Ziele. Daraus entwickelt sich ein Austausch mit anderen, die wiederum Anregungen, Informationen oder Kontakte beisteuern - und schließlich ein dynamisches Geflecht von sozialen Beziehungen. Nur durch Interaktion, durch das Netzwerk, durch die Emergenz entsteht der Nutzen.

Der Fotodienst Flickr bietet seinen Nutzern die Möglichkeit, Bilder zu speichern und anderen zugänglich zu machen. Doch erst die Such-, Verknüpfungs- und Kommunikationsdienste machen den Bilderberg lebendig. Die Nutzer können thematische Gruppen aus eigenen und fremden Fotos anlegen, Bilder kommentieren und über das Web-Interface Nachrichten austauschen. Auf Wunsch informiert eine E-Mail darüber, dass bestimmte Fotografen neue Bilder publiziert haben. Flickr-Mitglieder können einzelne Bereiche ihrer Fotos mit Textnotizen versehen. Der Betrachter entdeckt diese Informationen beim Darüberfahren mit der Maus. Wer will, kann so mit Fotografien ganze Geschichten erzählen, jedes einzelne Bild in einen Zusammenhang stellen. Durch die Summe dieser Features erzeugt Flickr ein enorm dichtes soziales und inhaltliches Geflecht.

Fotografen, aber auch zufällige Besucher können Fotos mit "Tags" versehen, ihnen also frei definierbare Schlagworte zuordnen. Je mehr Menschen dieses Spiel mitspielen, umso präziser katalogisieren sie dabei die Bilder. Wohl auch wegen des "Tagging"-Know-hows hat Yahoo! neulich den Bilderdienst für angeblich 40 Millionen Dollar aufgekauft.

NETZ-PARTYS

Bei Del.icio.us, Furl, Spurl und anderen Diensten können Anwender ihre aktuellen Web-Lesezeichen "taggen" und mit anderen tauschen. Die Suchmaschine Eurekster ermöglicht ihren Nutzern sogar eine Art Teamrecherche im Web: Wer auf ein für sein Interessengebiet besonders relevantes Suchergebnis stößt, kann es entsprechend kennzeichnen - und bei der nächsten Suche nach dem gleichen Begriff rutscht es im Ergebnisranking nach oben. In so genannten "Search Partys" können Nutzer mit gleichen Interessen von den Sucherfolgen der anderen Gruppenmitglieder profitieren. Viele wissen immer mehr als wenige: Das Prinzip hat bereits der Internet-Enzyklopädie Wikipedia zu ihrem beispiellosen Erfolg verholfen.

Neue Dienste, neue Daten, neue Kommunikationswege. All das mag danach klingen, als würde bloß die persönliche Informationsflut weiter anschwellen. Neue Technologie soll helfen, den Strom in die richtigen Bahnen zu lenken: Heute publiziert bereits jede Blog-Software, die etwas auf sich hält, nicht nur Webseiten, sondern auch eine kleine, maschinenlesbare Datei, den so genannten RSS-Newsfeed ("Rich Site Summary" oder "Really Simple Syndication"). Darin finden sich die einzelnen Blog-Einträge, gänzlich befreit vom sie normalerweise umgebenden grafischen Design. Der Nutzer abonniert Feeds seiner Wahl in einem so genannten Feedreader. Diese Programme ziehen in regelmäßigen Abständen ihre Runden durchs Web, sammeln die aktualisierten Dateien ein und stellen den Inhalt gestaltungsneutral dar.

RSS erlaubt zwar effiziente Informationsbeschaffung im Netz, das Filtern dieser Information ist aber letztlich persönliche Hand- und Kopfarbeit. Am besten helfen können immer noch reale Menschen: Wer dreimal auf ein gutes Buch hingewiesen hat, dessen Tipp befolgen wir wahrscheinlich auch ein viertes Mal. Menschen filtern für Menschen. "Je mehr Möglichkeiten man hat, umso weniger weiß man, was man will", formuliert Michael Breidenbrücker. Sein in London ansässiges Unternehmen Last.fm versucht Menschen anhand ihrer Musikvorlieben zusammenzubringen.

"Musik transportiert viel mehr als eine MP3-Datei", weiß Breidenbrücker: "Wir versuchen, den sozialen Kontext herzustellen." Anhand ihres Musikgeschmacks unterbreitet Last.fm Anwendern nicht nur Vorschläge, sondern versucht auch, virtuelle Freundeskreise zu bilden. Über die Zeit hat Breidenbrücker auf diese Weise interessante Beobachtungen gemacht: "Unter den Songs bilden sich Cluster, Genre-Gruppen, die nicht von der Musikindustrie erfunden, sondern von den Nutzern erzeugt wurden." Auch Last.fm schafft so Ordnung jenseits hierarchischer Kategorien - mithilfe von Menschen.

Je größer und unübersichtlicher das Netz wird, desto größer wird auch das Bedürfnis nach Orientierung, Vertrauen und Verbindlichkeit. Und je mehr Menschen es bevölkern, umso wichtiger werden Normen und Schutzmechanismen - ob vor Spam oder bloßer Belästigung. Anonyme Webforen und Chatrooms ohne soziale Regeln verkommen leicht zu virtuellen Slums, in denen nur noch randständige Nerds, Querulanten und Verrückte herumirren. Nachhaltige Interaktion zwischen Menschen braucht verläßliche Beziehungen.

SOZIALE NETZE

Durch Feedback- und Rating-Mechanismen unterstützt Social Software den Aufbau von digitaler Reputation. Das Prinzip, dass jeder in der Gruppe die Beiträge anderer bewerten kann, ist nicht neu, sondern knüpft an die Konventionen in Web-Foren wie Slashdot an. So funktioniert auch das System von Ebay. Das Neue liegt im Zusammenspiel solcher Mechanismen mit einer Vielzahl von Verknüpfungs- und Kommentiermöglichkeiten. Dieses Geflecht schafft bei Diensten wie Flickr durchaus eine angenehme, ja persönliche Atmosphäre -- auch wenn viele Nutzer unter Pseudonymen auftreten. Doch wenn es um Geschäftsbeziehungen, Jobs oder Freundschaft geht, reicht das nicht mehr: Vertrauen erfordert letztlich Identität. Man will eben wissen, mit wem man es zu tun hat. Und wenn man es selbst nicht weiß, dann fragt man andere, auf deren Rat man vertraut.

So genannte virtuelle soziale Netze wie Friendster oder Orkut versuchen deshalb, die entsprechenden Konventionen der realen Welt zu modellieren. Hier dienen gemeinsame Freunde und Bekannte als Indiz für eine Geistesverwandtschaft. Der Grundgedanke: Der Freund eines Freundes kann eigentlich kein Unsympath sein. Die Chance der sozialen Kompatibilität ist also ausgesprochen hoch. Warum sich nicht einfach kennen lernen? Auf Partys oder am Arbeitsplatz passiert das jeden Tag schnell und unkompliziert; entsprechende Dienste im Internet erlauben es nun, die soziale Kette noch ein Glied weiter zu knüpfen: Auch der Freund des Freundes des Freundes ist plötzlich in Kontaktweite, egal, wo er sich geografisch gerade aufhält.

Dass solche Brückenschläge auch großen Einfluss auf unsere berufliche Existenz haben, stellte der Soziologe Mark Granovetter bereits in den 70er Jahren fest. Granovetter befragte Menschen danach, wie sie an ihren Job gekommen seien. Seine Erkenntnis: Nicht die engen Freunde oder Familienangehörigen, die so genannten "strong ties", sind bei der Jobsuche wichtig, vielmehr sind es meist die "weak ties" – die Freunde von Freunden oder sogar deren Freunde –, die den Kontakt zum künftigen Arbeitgeber herstellen. Diesen Umstand versuchen virtuelle Business-Netzwerke wie Linked- In oder OpenBC zu nutzen.

"Die Welt vernetzt sich immer mehr, gerade deshalb sind Vertrauen und Reputation, kurz: der Ruf, den man hat, immer wichtiger", sagt Konstantin Guericke, Mitgründer von Linked- In. Das Business-Netzwerk gibt sich exklusiv und diskret: "Die Mitglieder können nicht direkt miteinander Kontakt aufnehmen, außer sie kannten sich schon vorher. Sie müssen miteinander bekannt gemacht werden", erläutert Guericke.