Das Web sind wir

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NEUE GEGENMACHT?

"Die entscheidende Frage lautet: Wie docke ich mich an die richtigen Netzwerke an?", sagt Medienexperte Thomas Burg: "Wer die neuen Möglichkeiten nutzt, hat einen klaren Vorteil gegenüber denen, die das nicht tun." Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der neuen Technologien könnten sich sogar als "brisant" erweisen, glaubt Burg: "Vernetzung hat auch immer etwas mit Macht zu tun." Das Internet und speziell Social Software gebe jedem die Chance, sich schnell und unkontrollierbar vorhandenen informellen Netzen anzuschließen oder selbst neue zu bilden: "Das könnte für bestehende Machtstrukturen problematisch werden."

Da sind sie wieder, die revolutionären Töne, doch diesmal nehmen sie eine andere Richtung: Versuchte John Perry Barlow das Internet als autonome Republik gegen den Rest der Welt zu verteidigen, spricht Thomas Burg von einer Umwälzung im realen Leben, ausgelöst durch menschliche Netze, die wir online knüpfen. Die Web-Netzwerke könnten freilich auch zur Bildung neuer Eliten führen, zu einer neuen digitalen Spaltung: Wer nicht dazugehört, verliert womöglich den Anschluss an die globale Wissensgesellschaft. Isolation im Web könnte zu Ausgrenzung und Ungleichheit in der realen Welt beitragen.

Die optimistische Alternative ist ein von Menschen geprägtes, ein menschlicheres Web, das immer mehr mit der Realität zusammenwächst - und zugleich auch eine Art Gegenentwurf bietet, neue Perspektiven und Horizonte eröffnet. Ausgerechnet im globalen Medium Internet könnten jene Lebenswelten neu entstehen, die vielen durch die Globalisierung zunehmend bedroht erscheinen: Während in der Offline-Welt der anonyme Großkapitalismus waltet, die Menschen Arbeitsplatzverlust und Entwurzelung fürchten, wachsen im Web neue Räume und Sphären, in denen Identität, Vertrauen und Zusammenarbeit herrschen.

Sicher, auch in Zukunft können sich RealNeo665, Crippled- Mind oder face1004 weiter im Netz tummeln, aber ihre Web- Ecken werden höchstens noch die Funktion eines Maskenballs haben. Wer Vorteile aus dem Internet ziehen und dort für sich nutzen will, wo wir alle Sozialversicherungsnummern haben, der muss als echte Person präsent und aktiv sein.

Das "Web 2.0" wird ein Ort für echte Menschen sein. Man wird sich diesem Web nicht so leicht verweigern können. Es wird bei manchen aber auch Ängste wecken. Es wird Gewinner und Verlierer geben, neue Chancen, aber wahrscheinlich auch neue Ungleichheit. Herzlich Willkommen in der Wirklichkeit.

Mario Sixtus lebt und arbeitet als freier Journalist in Düsseldorf. Wenn er nicht gerade über die bloggende Revolution schreibt, bloggt er - ganz unrevolutionär - auf www.sixtus.net. Sie finden den Artikel gut oder grundfalsch? Diskutieren Sie mit Forum oder im CIWI-Netzwerk!

(Entnommen aus Technology Review Nr. 7/2005; das Heft können Sie hier bestellen (wst)