Das öffentliche Automobil

Inhaltsverzeichnis

Für die Automobilindustrie bedeutet die Entwicklung weg vom Privat-Pkw und hin zur vernetzten Mobilität sowohl Risiko als auch Chance. Die oft als "Dinosaurier" gescholtenen Großserienhersteller haben diesen Trend erkannt und treiben ihn aktiv voran. Daimler etwa hat unter dem Namen Car2go in mehreren Städten in Deutschland und den USA eine Flotte von Smarts bereitgestellt, die ohne Reservierung ausgeliehen und überall im Stadtgebiet wieder abgestellt werden können. Abgerechnet wird nach Minuten und Kilometern. Außerdem unterhält Daimler in Ulm und Aachen eine eigene Online-Mitfahrzentrale namens Car2gether, die per Smartphone Fahrten vermittelt. "Wir sehen uns als Teil der Mobilitätskette", sagt Projektleiter Michael Kuhn. Man arbeite eng mit den örtlichen Verkehrsbetrieben zusammen: Wer in Aachen keine Mitfahrgelegenheit findet, bekommt von der App die Abfahrtszeiten der nächsten Busse und Bahnen angezeigt. Das ist zwar noch weit entfernt von der kompletten Integration aller Verkehrsmittel, aber das Beispiel zeigt: Privater und öffentlicher Verkehr gehen aufeinander zu.

Auch andere große Hersteller springen auf den Carsharing-Zug auf: BMW hat sich dazu mit dem Autovermieter Sixt zusammengetan; Peugeot verleiht neben Autos und Transportern auch Elektro-Fahrräder und -Scooter; VW startet gerade ein entsprechendes Pilotprojekt in Hannover. Die Zahl der deutschen Carsharing-Nutzer werde von aktuell 165.000 bis 2016 auf 1,1 Millionen ansteigen, prophezeit Frost & Sullivan. Zudem biete Carsharing eine solide Ausgangsbasis für das Wachstum und die Akzeptanz von Elektrofahrzeugen. Ab 2012, schätzt Frost & Sullivan, dürfte in Europa jeder dritte Carsharing-Neuwagen batteriebetrieben sein. Damit wären 2016 bereits 20 Prozent des gesamten Sharing-Fuhrparks elektrisch unterwegs. Erste Ansätze sind schon zu beobachten. Ende 2011 will Car2go je 300 Elektro-Smarts in San Diego und Amsterdam stationieren. Auch die Deutsche Bahn bietet mit dem Projekt BeMobility in Berlin 50 E-Fahrzeuge verschiedener Hersteller zur Ausleihe an.

Groß angelegtes Carsharing ist keine Fortsetzung des privaten Autoverkehrs mit anderen Mitteln mehr, sondern ein neues Zwischending aus öffentlicher und individueller Fortbewegung – Public-Private-Verkehr im Branchenjargon. Welchen Einfluss hat das auf die Technik des einzelnen Autos? Entsteht hier bald eine ganz neue Fahrzeugklasse, die Public-Private-Vehicles (PPV)? Die ersten Experten machen sich schon Gedanken über deren Aussehen: Anfang des Jahres stellte der Autozulieferer EDAG mit Sitz in Fulda auf dem Autosalon Genf ein robustes, knubbeliges Leihfahrzeug vor. Es ist 1,90 Meter hoch, um einen bequemen Einstieg zu ermöglichen; der damit verbundene höhere Luftwiderstand spiele bei einem reinen Stadtauto keine Rolle, ebenso wenig wie die auf 100 km/h begrenzte Höchstgeschwindigkeit, argumentiert EDAG. Rundherum sind Kunststoff-Pads angebracht, die sich nach einem Parkrempler automatisch wieder ausbeulen. Alle Verschleiß-teile im Inneren sind pflegeleicht und einfach auszutauschen. Das Fahrzeug existiert allerdings nur im Computer und wird wohl nie in Serie gehen – es war von vornherein nur als Konzeptstudie geplant.

Konkreter sind die Pläne des Projekts Ec2go, Mitte 2011 von der FH Aachen gemeinsam mit Partnern gestartet und mit rund 2,6 Millionen Euro vom Land Nordrhein-Westfalen und der EU gefördert. An die 20 Ingenieure arbeiten bereits an einem eigens für den Zweck des Carsharings entwickelten E-Auto nebst den dazu passenden Ladestationen. "Das Auto hat nur eine Aufgabe, und die muss es perfekt erfüllen", so das Credo von Ec2go. Aus Umfragen und Statistiken haben die Aachener ermittelt, dass ein Sharing-Wagen am Tag rund 2,5 Stunden oder 80 Kilometer gefahren wird. Den Rest der Zeit kann er geladen werden. "Damit kann man sich die Reichweitenfrage sparen", sagt Mitinitiator Thilo Röth, Professor an der FH Aachen. Das bedeutet: Die Entwickler können an den Batterien sparen und das Fahrzeug so leichter und billiger machen.

Das Ec2go soll kleiner sein als ein Smart, aber trotzdem drei Sitzplätze haben. Die Sitze werden deshalb zwar keinen Langstreckenkomfort bieten, dafür äußerst platz- und gewichtssparend sein. Zum Ausgleich soll der Wagen einen kleinen Wendekreis und ein großes Drehmoment bekommen, damit auch der Spaß nicht zu kurz kommt. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Kommunikation zwischen Nutzer, Betreiber, Fahrzeug und Ladestation: "Es wird ein Web-Auto", verspricht Röth.

Einen fahrbereiten Prototyp gibt es allerdings noch nicht. Der Wagen könnte frühestens 2013 marktreif sein, wenn sich die richtigen Industriepartner finden. Und noch ein weiterer Mitspieler muss an Bord: die Kommunen. "E-Autos werden immer etwas teurer sein als solche mit Verbrennungsmotor", sagt Röth. "Deshalb müssen wir Mehrwert schaffen – etwa durch bevorrechtigtes Parken oder die Freigabe von Busspuren." Und hier seien die Kommunen gefragt. Zumindest Städte würden von intelligentem Carsharing umgekehrt ja auch profitieren, weil es die urbanen Zentren entlaste.

In seiner Abschlussarbeit an der TU Hamburg-Harburg hat Christoph Rudolph untersucht, wie Kommunen mit dem Thema Elektromobilität umgehen. Dazu interviewte er Hersteller, Energieversorger und Vertreter deutscher Großstädte. Seine Ergebnisse sind ernüchternd: Viele Kommunen fühlten sich durch Energieversorger, die Ladesäulen im öffentlichen Raum aufstellen möchten, "instrumentalisiert"; die Genehmigung solcher Ladestationen werde in den meisten Städten willkürlich und ohne klaren Kriterienkatalog erteilt; für Sonderparkflächen an Ladestationen fehle die Rechtsgrundlage; und überhaupt halten die Kommunen wegen ihrer klammen Finanzen nicht viel von der Idee, kostenloses Parken an Ladesäulen zu erlauben – ebenso wenig wie von der Forderung, Busspuren für E-Autos freizugeben.

Doch wenn auch viele solcher Fragen noch offen sind: Das Auto wird seinen Platz in der Mobilitätskette wohl verteidigen. Aber dafür wird es sich wandeln müssen. Das betrifft nicht nur die verschiedenen Antriebskonzepte – Verbrennungs-, Elektro- und Hybridfahrzeuge – die noch lange nebeneinander existieren werden. Sondern auch das Verhältnis des Pkws zum Nutzer und zu anderen Verkehrsmitteln wird bunter und vielfältiger. Neben dem Privatbesitz wird sich ein ganzer Zoo aus halb öffentlichen Miet- und Sharing-Konzepten etablieren. Und für immer weniger Menschen wird das Auto das Universalwerkzeug zur Mobilität sein, sondern nur eine Ergänzung zu Fahrrad, Fußweg, Bus, Bahn oder Flugzeug. Wann und in welchem Umfang es gelingt, die einzelnen Fortbewegungsarten zu einem harmonischen Netz zu verweben, ist nur in zweiter Linie eine technische Frage. Die angeblich mangelnde Reichweite des Elektroautos, dieses ewige Killerargument, stellt jedenfalls kein ernsthaftes Hindernis dar. Viel entscheidender ist es, dass Branchen und Organisationen, die bisher neben- oder gegeneinander gearbeitet haben, über ihren Schatten springen und kooperieren. (grh)