Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Betreiber bauen im Rücken der Armee Netze neu auf

Die Kommunikationsnetze haben in der Ukraine gehalten. Ein Rückblick auf die fast übermenschlichen Kraftanstrengungen der ukrainischen Netz-Community.

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Netz-Reparaturen am Limit.

(Bild: RIPE)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Monika Ermert
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Am 24. Februar 2022, als viele Ukrainer im Stau steckten, um aus Kiew zu fliehen, blieb Olena Lutsenko in der Stadt und beobachtete zu Hause, wie der Verkehr in ihrem Netz rapide zunahm. Lutsenko leitet die Schwarzmeer-Geschäfte für den Backbone-Betreiber RETN, einen Tier-2-Betreiber mit insgesamt 116.000 km Glasfaserstrecken zwischen Europa und Asien. "Ich hängte mich ans Telefon mit meinem Team in der Ukraine und mit dem Vorstand und wir besprachen die Koordinaten für Notfallmaßnahmen", erinnert sich Lutsenko.

Die Bedrohungsszenarien seien wenig anders als bei der klassischen Risiko-Matrix eines Backbone-Betreibers, erklärt Lutsenko: durchtrennte Glasfasern, umgeleiteter Verkehr, Absicherung des Netzes gegen Angriffe, Strom und Zugang zu Lagern und den sieben in der Ukraine betriebenen zentralen Knotenpunkten. Aber die Situation war doch eine andere. Es war Krieg.

"Doch treten die Probleme potenziert auf und alle zugleich, und oft sind sie schwer zu beheben angesichts der äußeren Umstände." Luftalarm, die Gefahr, bombardiert zu werden, während man eine Leitung repariert, Ausgangssperren, die die Zeiten verkürzen, in denen man arbeiten kann.

Dmytro Kniaziev vom größten ukrainischen Netzwerkkomponenten-Zulieferer DEPS setzte sich um fünf Uhr morgens ins Auto. "Ein Freund hatte mich angerufen und ich nahm meine Tochter und fuhr mit ihr zu meinen Eltern nach Butscha." Er habe gedacht, "das Ganze wird hoffentlich schnell vorbeigehen und wir können es aussitzen". Doch ausgerechnet Butscha wurde zu einem der meist umkämpften Gebiete, dort beging die russische Armee vermutlich grausame Kriegsverbrechen.

"Nach kurzem gab es nichts, keinen Strom, kein Wasser, keine Läden und kein Internet oder Telefon", sagt Kniaziev. "In diesen Tagen habe er am eigenen Leib erfahren, was es heiße, abgeschnitten zu sein vom Rest der Welt. Es sei eine unerträgliche Situation, getrennt vom gewohnten Nachrichtenstrom in seiner Wohnung oder in einem Luftschutzraum zu sitzen, ohne mit Familie und Freunden Kontakt halten zu können, ohne Information, wie viele Raketen gerade kommen oder ob die Russen schon gewonnen haben. Die russischen Angreifer hatten gezielt die Kommunikationsinfrastruktur attackiert, rekapituliert Oleksi Zinevych, Geschäftführer des in Butscha, Irpin und der Region Kiew aktiven Internet-Serviceproviders (ISP) Best.

Kniaziev konnte mit Eltern und Tochter durch die Frontlinien nach Kiew zurückschlüpfen. Er hatte Glück. Seither sorgt er mit ursprünglich 250 DEPS-Kollegen dafür, die rund 2000 kleinen und großen Provider des Landes mit Ausrüstung zu versorgen. Kniaziev ist Produkt- und Marketingleiter bei DEPS. Und was macht ein Marketingleiter im Krieg? Nicht viel Marketing, sagt er.

Die Forscher der IP-Adressvergabestelle RIPE NCC verwiesen auf einem ihrer üblichen Treffen mit Regierungen im Januar in Brüssel auf die enorme Diversität des ukrainischen Netzes. Diese sowie die große Zahl von Providern in der Ukraine und die beharrlichen Reparaturarbeiten haben das Netz in der Ukraine in einem Maß resilient gemacht, die vielen Experten Erstaunen und auch Bewunderung abringt.

Nicht nur gibt es keinen dominanten Marktplayer auf dem Provider-Markt, sodass der Ausfall eines von ihnen nicht zu sehr ins Gewicht fällt. Der internationale Datenverkehr wird zugleich über mehr als ein Dutzend Austauschknoten abgewickelt, wie Messungen des Internet-Sensor-Netzwerks Atlas zeigen. Die wichtigste Erkenntnis ist für den Geschäftsführer des RIPE NCC, Hans Petter Holen, dass die Ukraine nach wie vor ein "robustes Netzwerk" habe, trotz "Bedingungen, die man sich schlimmer kaum vorstellen kann".

Wie der Krieg selbst habe auch die Situation des Internets im Land sich verändert, soweit Holen das auf der Basis der Atlas-Messungen und anhand der Berichte ukrainischer Mitglieder nachvollziehen könne: Am Anfang der Schock der Invasion, in dem viele erwarteten, dass das ukrainische Internet massiven Schaden nehmen werde. "Das ist nicht passiert", sagt Holen. "Das war am Anfang alles andere als sichergestellt. Es war die harte Arbeit und der Einsatz der Netzbetreiber in der Ukraine, die das Land am Netz gehalten hat."

Ab dem Herbst 2022 setzten der Ukraine vor allem die russischen Attacken auf die Energieinfrastruktur des Landes zu. Immer wieder verschwinden bis heute als unmittelbare Folge russischer Bombardements Atlas Sensoren von der Karte in Amsterdam. "Aber wir sehen auch, dass später manches wieder online auftaucht." Ein Unterschied zur ersten Schockphase und der Zeit bis Mai 2022 sei, dass Netzbetreiber inzwischen nicht nur Feuer austreten, sondern etwas mehr Zeit fürs Planen hätten.

Für die Techniker und die Teams der Provider sei es Alltag geworden, die zerstörten Netze wiederherzustellen, berichtet Kniaziev aus Kiew. Hinter der Armee rücken sie nach, um die von russischer Artillerie verursachten Schäden zu beheben.

Im März, nach dem Rückgewinn der Gebiete um Kiew, Sumy und Tchernihiw, wurde vor allem dort repariert. Von September bis Oktober zogen ISP-Teams durch Charkiv, im November durch Kherson. Die Schäden sind kaum zu beziffern, meint Kniaziev. 1,79 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau zerstörter Telekommunikations-Infrastruktur veranschlagte die Internationale Fernmeldeunion in einem mit Rücksicht auf das ITU-Mitglied Russland wenig beworbenen Schadensbericht vom Januar. Doch die Kalkulationen reichen nur bis Mitte August 2022. Kniaziev verweist auf das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung. Beschädigte Netze in Kiew, Charkiv, Sumy und Tchernihiw und die gesamte Stadt Donezk wurde komplett zerstört. "Wir sprechen hier nicht von einer Wiederherstellung. Wir sprechen hier von einer ganzen Stadt, die aufgehört hat zu existieren."

Ein Kunde in Bachmut habe zwischen Juli und August unterstützt von der Initiative KeepUkraineConnected der Global Network Operator Group erhebliche Reparaturarbeiten geleistet. Jetzt wird seit vier Monaten rund um Bachmut gekämpft. Die Postings auf dem Facebook Account des lokalen Providers Elite-Line in Kramatorsk lesen sich wie ein Kriegstabebuch von Netzwerk-Operatoren, ein frustrierender Kreislauf von Zerstörung, Wiederaufbau und neuer Zerstörung.

Auch die Zahlen im ITU-Bericht belegen das. 3000 Reparaturen durch 450 Techniker in 110 Städten meldete der große Anbieter Kyivstar (25 Millionen Mobilfunk-, 700.000 Internetkunden) für sein Breitbandnetz – allein für den Monat April 2022. 30.000 Reparaturteams schickte der drittgrößte ukrainische Mobilfunkbetreiber Lifecell in den ersten viereinhalb Monaten los, 80 bis 90 Trupps waren täglich unterwegs. Insgesamt kommt der ITU-Bericht auf 3700 zerstörte Basisstationen bis August und 20 Prozent Schäden an der Infrastruktur.

Manche Netzbetreiber versuchten Buch zu führen, sagt Kniasiev, in der vagen Hoffnung, irgendwann einmal Entschädigungen von Russland fordern zu können. Aktuell aber hätten sie genug andere Probleme.