Missing Link: 25 Jahre Anonymisierung mit Tor, eine Geschichte mit Widersprüchen

Seite 3: Tor heute

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Top 10 der Länder mit den meisten Tor-Usern

(Bild: Metrics.torproject.org)

Tor gilt im Jahr 2020 als wichtigster Gegenspieler von Überwachung und Zensur. Die offiziellen Nutzungszahlen des Tor-Statistikportals Metrics zeigen jedoch, dass Tor insgesamt eine Nischentechnologie ist, mit aktuell nicht mehr als weltweit etwa 2 Millionen täglichen Nutzerinnen und Nutzern. Die mit Abstand meisten Tor-Zugriffe kommen aus den USA, dann folgen Russland, Deutschland, die Niederlande und Frankreich. Aus Deutschland kommen täglich etwa 190.000 Tor-Zugriffe.

Wie genau diese mathematisch modellierten Zahlen die Realität wiedergeben, kann allerdings niemand sagen. Eine 2018 von Forschern verlinkte Methode errechnete acht statt zwei Millionen weltweite Tor-User.

Die Gesamtzahl der Knoten, die die Infrastruktur zur Verschleierung von Datenverkehr stellen, ist seit 2006 kontinuierlich gestiegen, stagniert jedoch seit einigen Jahren. Heute sind es etwa 9.000: rund 7.000 "normale" Knoten und 2.000 versteckte "Bridge"-Knoten, mit denen sich Tor auch dann nutzen lässt, wenn Zensurregime die sonstigen Knoten blockieren.

Bei den Tor-Knoten spielt die deutsche IT-Community eine Schlüsselrolle. Etwa 1.500 der rund 6.700 "normalen" Knoten kommen aus Deutschland, das entspricht einem Anteil von 22 Prozent. Schaut man nicht nur auf die absolute Zahl, sondern auch auf die Verteilung des Tor-Datenverkehrs ("Consensus Weight"), wird das Gewicht noch größer. Über deutsche Knoten läuft etwa 35 Prozent des Tor-Datenverkehrs, mehr als bei den im Ranking folgenden ebenfalls wichtigen Tor-Ländern Frankreich (14 Prozent), USA (8 Prozent) und Niederlande (7 Prozent) zusammen.

Bei vielen Knoten ist bekannt, wer sie betreibt: Reporter ohne Grenzen betreibt zwei starke Knoten und in vielen Ländern gibt es spezialisierte Tor-Unterstützer. In Deutschland betreibt der Verein Zwiebelfreunde e.V Tor-Knoten sowie der Verein Digitalcourage, Einzel-Mitglieder des Chaos Computer Clubs und der Piratenpartei sowie die Tageszeitung taz.

Karte zum Länderanteil am Tor-Datenverkehr

(Bild: Metrics.torproject.org)

Schon 2003 hatte es einen ersten deutschen Tor-Knoten gegeben, betrieben von Stefan Köpsell, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden. Aktuell ist er Vertretungsprofessor für Datenschutz und Datensicherheit an eben jener Uni. Im Gespräch mit heise online erinnert er sich: Den Tor-Knoten hatten er und sein Team ab Ende 2003 zeitlich begrenzt betrieben, maximal zwei Jahre lang. Das geschah aus Sympathie und aus Forschungsinteresse heraus: "Es war eine Mischung. Wir wollten Tor unterstützen und waren auch sehr neugierig, wie die Technologie praktisch funktioniert und wieviel Traffic generiert wird." Außerdem wollten sie schauen, inwiefern sie Tor in ein eigenes Anonymisierungsprojekt integrieren können: Java Anon Proxy (JAP)/AN.ON, das schon Jahre vor Tor als verheißungsvolle "virtuelle Tarnkappe" durch die Medien ging.

Anders als Tor setzt JAP/AN.ON nicht auf eine möglichst große Zahl an ehrenamtlich betriebenen Knoten, aus denen einzelne Anonymisierungspfade zusammengewürfelt werden. JAP/AN.ON basiert auf einer kleinen Zahl vertrauenswürdiger Mix-Stationen. Die finanzieren sich teilweise über Nutzergebühren und kombinieren die Datenströme verschiedener Nutzer zu immer wieder neuen Paketen.

Das Projekt an der TU Dresden war der ernsthafteste Konkurrent zu Tor gewesen und ging sogar früher an den Start. Der erste arbeitsfähige Quellcode lag bereits im Jahr 2000 vor, so Köppsell: "Wir waren definitiv früh dran." Das JAP-Projekt existiert noch heute in Form der Ausgründung JonDoNym, spielt im Vergleich mit Tor aber eine untergeordnete Rolle.