Missing Link: 25 Jahre Anonymisierung mit Tor, eine Geschichte mit Widersprüchen

Seite 5: Das Fremdeln mit dem Darknet

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Für einen weiteren großen Widerspruch sorgt das Tor-Darknet. Diese "virtuelle Top-Level-Domain" bringt die Zwiebeltechnologie immer wieder in die Schlagzeilen. Nach Aussagen von Dingledine ist sie aber nur eine Nischenanwendung innerhalb der Nischentechnologie Tor.

Auf der Hacker-Konferenz Def Con sagte Roger Dingledine, dass nur zwischen einem und drei Prozent der User mit Tor tatsächlich auch ins Darknet gingen, während die anderen die Software zur Umgehung von Überwachung und Zensur im normalen Internet nutzten. Das ergäbe bei etwa zwei Millionen täglichen Tor-Zugriffen weltweit nur maximal 60.000 tägliche Darknet-Nutzerinnen und Nutzer, davon nicht mehr als 6.000 aus Deutschland.

(Bild: FOTOKITA/Shutterstock.com)

In puncto Widersprüchlichkeit steht das Darknet der Muttertechnologie Tor in nichts nach. Das Darknet ist zum einen ein politischer Ort, der vor Überwachung schützt. Wichtige linke IT-Kollektive wie Riseup und Systemli bieten Darknet-Versionen ihrer Kommunikationswerkzeuge an und Dutzende Medien und NGOs haben mithilfe der Software Securedrop oder Globaleaks anonyme Postfächer für Whistleblower im Darknet angelegt, darunter auch heise mit seinem Tippgeber.

Zum Leidwesen der Tor-Community schafft es die "digitale Unterwelt" aber nicht deswegen in die Medien, sondern meist im Kontext von Cybercrime-Berichterstattung. Das Darknet ist eine große professionelle Einkaufsmeile für illegale "Güter" aller Art, vor allem für Drogen, die auf Amazon-artigen Marktplätzen gehandelt werden. Für diesen innovativen Zugangsweg zu Rauschmitteln wird das Darknet von Drogengegnern und Behörden verteufelt, vor allem von jungen Drogenkonsumenten hingegen gefeiert.

Über alle Altersklassen und politischen Einstellungen hinweg in Verruf ist die digitale Unterwelt, weil sie auch für Missbrauchsforen genutzt wird. Auf denen tauschen Pädokriminelle Videos und Bilder der sexuellen Misshandlung von Kindern, Jugendlichen und Kleinkindern aus und sind dabei größtenteils ungestört. Es ist technisch nicht möglich, Darknet-Adressen zu löschen oder zu sperren. Bis dato hat sich Tor nicht zur Einführung einer Selbstregulierung im Darknet durchringen können.

Mit dem real existierenden Darknet scheint das Tor Project zu fremdeln. Bei kritischen Fragen zur inhaltlichen Verantwortung taucht man ab. Die Organisation leidet unter dem schlechten Ruf des Darknets, der auf Tor abfärbt. 2014 wurde gar eine PR-Agentur engagiert, um das öffentliche Bild von Tor zu verändern. Man hatte nach einem positiveren Begriff für das Wort Darknet gesucht, etwa "Onionspace", aber keinen besseren Vorschlag gefunden.

Dass die Öffnung von Tor zu Problemen führen wird, war von Anfang an klar gewesen. Am Ende des ersten Papers aus dem Jahr 1996 hieß es: "Es gibt eine offensichtliche Spannung zwischen Anonymität und Strafverfolgung." Als mögliche Lösung schlugen Syverson und Kollegen ein System von hinterlegten Schlüsseln vor, dass Ermittlungsbehörden ein Aushebeln der Anonymität erlauben würde – dieser Ansatz wurde, das ist allgemeiner Konsens, nicht umgesetzt.

All diese unvereinbaren Gegensätze vereint Tor scheinbar mühelos. Tor hilft Sicherheits- und Geheimdienstapparaten beim unerkannten Agieren im Netz, schränkt aber gleichzeitig die Möglichkeiten staatlichen Handels ein. Tor schützt vor Zensur und Überwachung und bringt damit Menschenrechte zur Geltung, hilft jedoch auch bei der Begehung schlimmster Verbrechen. Und Tor gehört zu den wichtigsten Werkzeugen digitaler Selbstverteidigung, finanziert sich aber traditionell über Gelder eines Überwachungsstaates. Wer sich darüber wundert, muss nur an den Anfangspunkt vor 25 Jahren zurückgehen, und wird sehen: diese Widersprüche waren von Anfang an angelegt.

(bme)