Missing Link: 50 Jahre Radikalenerlass

Seite 2: Das "folgenreichste Desaster in der Geschichte der alten Bundesrepublik"

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Vor gut einem Jahr schrieb der Journalist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung über den Radikalenerlass (PDF-Datei), den er als das "folgenreichste Desaster in der Geschichte der alten Bundesrepublik" bezeichnete. Die "bundesweite Gesinnungsschnüffelei bei einer ganzen Generation" führte dazu, dass sich ebendiese Generation vom Staat abwandte. Dabei stand der Erlass nicht allein auf weiter Flur, sondern war nur eines von mehreren Vorhaben, die "linke Subversion" zu verhindern.

Nur ein Beispiel: In Niedersachsen wurde gleichzeitig mit dem Wehrkundeerlass des Kultusministers Peter von Oertzen (SPD) der Versuch gemacht, Unterricht über die Bundeswehr in die Schulen zu tragen. Als eifriger Verfechter des Radikalenerlasses suspendierte von Oertzen bereits am 20. Januar 1972 den Hochschullehrer Peter Brückner vom Dienst. Das musste er nach zwei Semestern zurücknehmen. Sein Nachfolger Werner Remmers (CDU) setzte 1977 ein erneutes Berufsverbot gegen Brückner durch, das 1981 von einem Gericht kassiert wurde.

Wir Oberstufenschüler demonstrierten mit den Studenten in Hannover für Brückner, aber auch für Lehrer wie Heiko Pannemann und Bernd Pagell, die ersten Opfer der Berufsverbote in Niedersachen. "Die Sache", die Zeitung der Niedersächsischen Landesschülervertretung, berichtete monatlich ab Februar 1972 über Lehrer und Lehramtsbewerber, die betroffen waren. Besonders engagierte sie sich für den Hochschullehrer Horst Holzer, der Rufe an die Universität Bremen und Oldenburg bekam, aber als DKP-Mitglied nicht zum Professor berufen wurde.

"Die Sache" – Zeitung der Niedersächsischen Landesschülervertretung

Der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt schrieb das Gedicht Belehrung nach Punkten, in dem er sich die Regelanfrage beim Verfassungsschutz als Lochkarte vorstellte, mit der der Datenspeicher eines Computers gefüttert wird: "Na, und hier in Ihrer Akte – das gibt’s jetzt in jeder Akte – die Bewertungskarte PPD; das ist die politische Personaldatei. Haben wir uns ausgedacht. Echter Fortschritt, Punktbewertung, Lochkartensystem und praktisch so wie die Verkehrssünderkartei. Das objektiviert die Sache ganz enorm. Und damit ist der Gleichheitsgrundsatz bestens garantiert und ist alles demokratisch, haha. Und so funktioniert die Sache: Jeder Minuspunkt ein Loch, und ist die Minuspunktzahl von 45 dann erreicht, dann: Juppdika und ratata: der Datenspeicher wirft die Karte aus, und wir wissen: Wieder mal ein Radikaler, bietet nicht Gewähr, voll einzutreten jederzeit für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!"

Die größte Beachtung fand der Radikalenerlass indes im europäischen Ausland. Gleich am Anfang der Verbotspraxis ereignete sich ein internationaler Vorfall, als wenige Tage nach Inkrafttreten des Extremistenbeschlusses dem belgischen Marxisten und Ökonomen Ernest Mandel am 28. Februar 1972 in Frankfurt/Main die Einreise verweigert wurde. Mandel, ein ehemaliger KZ-Insasse und Führer der Vierten Internationale, hatte einen Ruf als Professor an das Berliner Otto-Suhr-Institut erhalten, dem sich der dortige Wissenschafts- und Kultursenator Werner Stein (SPD) unter Berufung auf den Radikalenerlass widersetzte. Erst 1978 wurde das Einreiseverbot für den Belgier durch Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) aufgehoben.

Besonders in Italien und Frankreich, wo die kommunistischen Parteien in den 70er Jahren eine wichtige Rolle spielten, sorgte der Radikalenerlass für Empörung. Das Wort "Berufsverbot" wanderte in die französische Sprache. Der spätere französische Präsident François Mitterrand schrieb eine Serie von Artikeln, die die deutschen Berufsverbote scharf kritisierten. Er solidarisierte sich mit der aus dem Schuldienst entfernten Lehrerin Silvia Gingold, der Tochter des Résistance-Mitglieds Peter Gingold.

Das führte wiederum dazu, dass das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung für zwei Millionen Deutsche Mark eine Anzeigenserie startete, um Bundesdeutsche auf Ferienreisen in diesen Ländern auf politische Diskussionen vorzubereiten. Wenn sie gefragt werden, warum es in Deutschland keine kommunistischen Briefträger oder Lokomotivführer oder eben auch Lehrer geben darf, sollten sie antworten: "Es gibt bei uns kein Berufsverbot. Auch dann nicht, wenn jemand extreme Meinungen vertritt. Aber unsere Beamtengesetze sehen vor, dass Gegner des demokratischen Staates nicht im Staatsdienst beschäftigt werden dürfen. Grundsätzlich gilt: Niemand wird aus dem Staatsdienst wegen seiner politischen Überzeugung entlassen. Sondern nur aufgrund aktiver Handlungen gegen die Demokratie."

Begründungen für Berufsverbote und politisch motivierte Entlassungen – Eine Auswahl an dokumentierten Fällen

"Inzwischen sollten wir uns allerdings fragen, ob einige in unserem Land die Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst nicht übertreiben. Überzogene Reaktionen der Verwaltung verdienen mit Recht Kritik. Denn: das gewachsene Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie erfordert mehr Toleranz und Gelassenheit. Das ist auch wichtig, wenn Europa – wie durch die Direktwahl des Europäischen Parlaments im nächsten Jahr – weiter zusammenwachsen soll."