Missing Link: Die Sicherheit und Zukunft der Energieversorgung

Seite 2: Stabiles Netz trotz Gasmangellage

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Die meisten dürfte das nicht ganz beruhigen.

Die Blackout-Gefahr wird medial derzeit sehr getriggert, obwohl es keine wirklichen Anhaltspunkte dafür gibt. Die Rede ist von der Möglichkeit, dass es bei einer anhaltenden Dunkelflaute in Verbindung mit sehr niedrigen Temperaturen in Verbindung mit ausbleibenden Stromimporten aus Nachbarländern in Verbindung mit ausbleibenden Brennstofflieferungen für Kohlekraftwerke zu zeitweiligen Lastabschaltungen in einzelnen Regionen kommen könnte. Wie gesagt: könnte. Das wird aber nicht als Blackout bezeichnet, sondern ist ein kontrollierter Prozess, um die Systemsicherheit aufrechtzuerhalten.

Übertragungsnetzbetreiber sind sehr sicherheitsorientiert. Das ist ihr Geschäft. Da wird eher zu früh auf ein Risiko hingewiesen als zu spät. Eine solche Abschätzung war ja auch der sogenannte Stresstest, den die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat. Und daraus sind Vorsichtsmaßnahmen entstanden, die jetzt umgesetzt werden. Beispielsweise wird im Winter über viele Freileitungen mehr Strom übertragen als normalerweise technisch vorgesehen. Das schafft schon mal Entlastung. Der Test hat gezeigt: Wir kriegen das Netz stabil gefahren trotz dieser Gasmangellage. Zudem wurden Kohlekraftwerke an den Markt zurückgebracht, weitere Reserven aktiviert und auch die Atomkraftwerke sollen etwas länger laufen als geplant.

Wie sieht es 2023 und die Folgejahre aus?

Einige behaupten, der Winter 2023 wird noch kritischer. Dazu kann ich keine ehrliche Aussage machen, das wäre Glaskugel-Leserei. Das hängt von vielen Faktoren auch in anderen europäischen Staaten ab, wie sich dort die Versorgungslage entwickelt. Und niemand weiß, welche Wendung Russlands Krieg gegen die Ukraine nimmt mit dieser unvorstellbaren Zerstörungswut, die jetzt gegen die Elektrizitätsversorgung und gesamte Infrastruktur gerichtet ist. Die Antwort auf diese Frage ist also keine deutsche. Wir können das nicht isoliert betrachten. Das europäische Verbundnetz ist die größte Maschine der Erde. Wir sind von Schweden bis Portugal alle miteinander verbunden, von der Ukraine bis Westfrankreich. Das ist ein großes Sicherheitsnetz. Aber wie immer gibt es Schwachstellen, die man genau betrachten und beseitigen muss.

Wie lässt sich im EU-Verbund nachsteuern? Wie weit gehen da die Belastbarkeiten?

Wir müssen mit zunehmender Einspeisung von Erneuerbaren die Kapazität der sogenannten Interkonnektoren ausbauen. Das sind die Verbindungen zwischen den Ländern. Sie spielen eine zentrale Rolle, um das gesamte europäische Stromverbundnetz besser austarieren zu können und auf schwankende Witterungsverhältnisse und damit volatile Einspeisung – mal mehr Wind im Norden, mal mehr Sonne im Süden – reagieren zu können. Das hat aber auch Grenzen. Es ist nicht so, dass wir ganz Deutschland mit französischer Kernkraft versorgen könnten. So viel Leitungsausbau könnten wir gar nicht machen, das wäre volkswirtschaftlich nicht vertretbar und auch eine fatale Abhängigkeit.

Aber wir müssen diese Verbindungen ausbauen, damit es zu weniger Netzengpässen kommt. Wir diskutieren in der EliaGroup gerade über eine Leitung zwischen Norwegen und Belgien. 50Hertz plant einen Interkonnektor nach Schweden und eine weitere Leitung nach Dänemark, in die bei der Insel Bornholm mehrere Windparks integriert sein sollen. Elia baut vor der Küste Belgiens eine künstliche Energieinsel mit Leitungen nach Großbritannien und Dänemark. Da passiert ganz viel gerade.

Sollten Gas- und Strompreis entkoppelt werden?

Merit Order ist auf einmal in aller Munde: Das ist weder ein Gesetz noch eine politische Entscheidung. Es handelt sich um eine Beschreibung von Preisbildung auf einem Markt für gleichwertige Güter. Ob das Öl, Gas oder Strom ist, ist bei dieser Frage egal. Es geht also um die Darstellung eines Marktphänomens.

Das Strommarktdesign wurde seit der Liberalisierung von 1998 implementiert und ist extrem komplex. Daran herumzufummeln, ist brandgefährlich. Wir reden von Echtzeit-Stromhandel: Wir handeln Strom sehr langfristig mit sogenannten Futures, aber auch sehr kurzfristig an Strombörsen am sogenannten Spotmarkt. Hier ist es nicht so wie bei Aktien, sondern der Strom muss auch geliefert werden können. Wir müssen also die Physik gleichzeitig berücksichtigen.

Ein Beispiel: Jemand kauft jetzt für eine Viertelstunde soundsoviele Megawattstunden aus Schweden. Dann muss dieser Handel zu einer bestimmten Zeit auch wirklich stattfinden am Markt. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass man in diesen 15 Minuten genügend Leitungskapazität zwischen Deutschland und Schweden hat, um den Strom überhaupt herzubringen. Zudem ist zu gewährleisten, dass nicht alles aus der Balance gerät, wenn man die Summe aller Transaktionen am Markt übereinanderlegt und dann in physikalische Echtzeit-Strommengen überträgt. Diese Themen müssen alle miteinander verbunden werden.

National ist da vermutlich wenig zu machen?

Änderungen am Design können nicht national stattfinden, denn das ist aktuell europäisch. Alle angeschlossenen Staaten müssten also dafür stimmen. Das ist schwierig: Die Änderungen wollen die Politiker aus dem nationalen Energiemix heraus machen. Deutschland hat da etwa einen anderen als Frankreich oder Bulgarien. Wenn wir jetzt die Gaspreise hier deckeln, dann würden die Franzosen sich freuen. Denn dann produzieren wir ja hier mit subventioniertem Gas Strom und der geht – schwupp – nach Frankreich, weil er plötzlich billig ist. Weil wir einen freien Handel haben.

Welche Herausforderung stellt der Einbezug von Solar- und Photovoltaikanlagen auf Dächern und Balkonen, deutlich mehr Windrädern, E-Autos sowie generell neuer Anbieter im Verbraucherbereich dar? Wie sieht es aus mit der stärkeren Flexibilität auf der Nachfrageseite?

Die erste Riesenhürde ist das deutsche schwierige Design des Smart-Meter-Rollout. Das ist in anderen Ländern besser, daraus sollten wir lernen. Auf die hohen Anforderungen besteht das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) momentan.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will das ändern.

Dazu gibt es einen intensiven Austausch mit dem Bundeswirtschaftsministerium und der Bundesnetzagentur. Wir arbeiten dabei auch mit Start-ups zusammen. Eines davon – Decarbon1ze – versucht, die Flexibilitäten hinter dem intelligenten Stromzähler anrechenbar zu machen und zu managen ("Behind the Meter"). Aktuell sind die Smart-Meter-Vorschriften recht komplex und noch nicht vollständig ausdefiniert. In Zukunft muss das alles super flexibel sein, damit die Vorteile auch beim Endkunden ankommen. Da sind wir als 50Hertz dafür, die anderen Netzbetreiber haben wir teils auf unserer Seite.

Wir müssen komplexe Flexibilitäten heben. Das könnte so weit gehen, dass man virtuelle Flexibilitäten hat. Heute werden diese in Regelzonen ("balancing zones") gehandhabt. Die sind geografisch aufgeteilt. 50Hertz hat Ostdeutschland und Hamburg. Das gilt auch auf der Verteilnetzebene: Der eine hat weite Teile Sachsens, der andere Thüringen, der nächste Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Doch wo steht das geschrieben im Zeitalter von IT und Digitalisierung?