Missing Link: Digitale Polizei – eine unendliche Geschichte mit vielen Restarts

Schon seit sechseinhalb Jahren zimmern Bund und Länder am Polizei-Datenhaus P20. Doch schon das Fundament steht auf technisch und rechtlich tönernem Grund.

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(Bild: Shutterstock/Cristian Dina)

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Im November 2016 verständigten sich die Innenminister von Bund und Ländern auf die "Saarbrücker Agenda" zur Modernisierung, Digitalisierung und Vereinheitlichung der polizeilichen IT-Architektur. Das Bundesinnenministerium (BMI) stellte das anspruchsvolle Programm optimistisch unter den Titel "Polizei 2020". Schon bald war federführenden Beteiligten aber klar, dass sich die Arbeiten an dem geplanten einheitlichen Datenhaus für Ermittler und Fahnder mindestens bis 2030 hinziehen dürften.

Doch selbst dieses Datum könnte ins Wanken geraten. Es gibt sogar Stimmen, die bezweifeln, dass aus der Initiative, die Vielzahl unterschiedlicher Datensilos von Strafverfolgungsbehörden von Bund und Ländern mit verschiedenen Schnittstellen zusammenzuführen und den IT-Flickenteppich zu beseitigen, überhaupt noch etwas wird. Der Trend gehe längst in eine andere, aus bürgerrechtlicher Sicht noch gefährlichere Richtung: hin zu riesigen Datenseen mit Zufuhr aus allen erdenklichen Quellen und dem Versuch, darin etwa mit speziellen, weitgehend undurchsichtigen Algorithmen oder Künstlicher Intelligenz (KI) die Nadel im Heuhaufen zu suchen.

Offiziell hält die Bundesregierung am bisherigen Kurs zu Polizei 2020 fest, auch wenn der Dampfer allenfalls langsam Fahrt aufnimmt. Tobias Wiemann, Unterabteilungsleiter für öffentliche Sicherheit im BMI, überraschte in der Februarausgabe des Gewerkschaftsmagazins "Deutsche Polizei" sogar mit der Ansage: Nach sechseinhalbjährigem Vorlauf stünden nun "Grundsatzentscheidungen im Bereich der Polizeilichen Auswertungs- und Analysesysteme" an, um das mittlerweile als P20 abgekürzte Programm weiter zu "konkretisieren". Ferner stellte er Bestimmungen etwa zur "fachlichen, technischen und rechtlichen Ausgestaltung des Datenhauses" in Aussicht. Zeichnet sich nach der ganzen bereits geleisteten Arbeit ein weitgehender Richtungswechsel ab?

Man sollte meinen, dass solche grundsätzlichen strategischen Ausrichtungen am Anfang eines derart umfangreichen technischen Erneuerungsansatzes stehen. Wiemann spricht davon, dass die damit verknüpfte Transformation der polizeilichen IT den Arbeitsalltag der rund 340.000 hiesigen Ordnungshüter "in den nächsten Jahren grundlegend verändern" werde. Insofern sei P20 "mehr als ein bloßes IT-Projekt: Es ist das wohl ambitionierteste Organisationsentwicklungsvorhaben im Bereich der Polizeiarbeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland." Es lege das Fundament für sämtliche Tätigkeiten der Strafverfolger in der Zukunft. Diese Basis müsse sorgfältig geplant und ausgeführt werden, denn hierauf baue die gesamte künftige IT-Architektur auf.

Optimalerweise hätten die Innenminister von Bund und Ländern die erforderliche Sorgfalt schon in ihren ersten Entwürfen walten lassen. Doch offenbar besteht in dieser Hinsicht nach all den Jahren immer noch Nachholbedarf. Wiemann begründet die Notwendigkeit, weiterhin zunächst elementare Wege abzustecken, auch mit einem "Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur zweckändernden Weiterverarbeitung von polizeilichen Daten".

Die Karlsruher Richter erklärten Mitte Februar den Einsatz automatisierter Datenanalysen durch die Polizei in Hessen und Hamburg in bisheriger Form für verfassungswidrig. Das gilt etwa für das Big-Data-System HessenData der hessischen Polizei, das auf der umstrittenen Software Gotham des US-Unternehmens Palantir aufbaut. Diese ist als "Schlüsselfirma der Überwachungsindustrie" verschrien. Die gesetzlichen Vorschriften zu den einschlägigen Programmen schränken laut dem Urteil weder die Art und Menge der Daten, noch die technischen Methoden bis zum Nutzen von Künstlicher Intelligenz (KI) und Profilbildungen ein. Sie verstießen so gegen Persönlichkeits- und Vertraulichkeitsrechte des Grundgesetzes.

Wiemann sieht trotzdem nicht schwarz für das Großprojekt P20. Dieses "steht im regelmäßigen Austausch mit den Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder", schreibt der Ministeriumsvertreter. "Es gilt, rechtssicher den bestmöglichen Datenschutz zu gewährleisten und zugleich die Polizeiarbeit so effektiv wie möglich zu machen." Dass zusätzlich auch andere rechtliche Gegebenheiten in Bund und Ländern wie unterschiedliche Polizeigesetze zu beachten seien, mache das Ganze aber nicht "trivial und erfordert manchmal mehr Zeit, als sich viele Beteiligte selbst wünschen".

Die Mitstreiter, zu denen neben den 16 Polizeien der Länder das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundespolizei, die Polizei beim Bundestag und das Zollkriminalamt gehören, arbeiten Wiemann zufolge mittlerweile in mehr als 40 Unterprojekten gemeinsam an dem Transformationsvorhaben. Das Programm sei damit zumindest "in Teilen von der Konzeptions- in die Umsetzungsphase eingetreten". Greifbare Ergebnisse kämen zunehmend im Arbeitsalltag der Beamten an. Das Datenhaus nehme "mehr und mehr Gestalt an".

Einige Anwendungen aus dem P20-Portfolio seien "bereits im (eingeschränkten) Wirkbetrieb oder können in naher Zukunft eingesetzt werden", führt der Insider aus. Als Beispiele nennt er eine von Niedersachsen entwickelte, "auf Künstlicher Intelligenz basierende Software zum Aufspüren von Darstellungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Internet oder die Zentrale Informations-Management-Plattform (ZIMP)". Ferner werkelten das beim BMI angesiedelte, als Gesamtkoordinator dienende "Zentralprogramm" und weitere Beteiligte "mit Hochdruck daran, die Migration der etablierten Vorgangsbearbeitungssysteme auf die drei sogenannten Interims-Vorgangsbearbeitungssysteme (iVBS) voranzubringen". Aus diesen heraus erfolge die weitere Annäherung an das "abschließende Zielbild – das Datenhaus-Ökosystem".

"Missing Link"

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