Ökosystem Meer: Wie das Meer Nahrungsmittelquelle und CO₂-Senke bleiben kann

Das Ziel der aktuellen Weltnaturkonferenz ist es, 30 Prozent der Erdeoberfläche unter Schutz zu stellen. Wie kann das für Meeresfläche funktionieren?

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Das US-Unternehmen Ocean Era hat einen kugelförmigen Netzkäfig entwickelt, der frei in den Meereswirbeln bei Hawaii treibt. In den "Floating Pods" genannten Käfigen zieht Ocean Era den Raubfisch Kona kampachi auf. , Rick Decker

Das US-Unternehmen Ocean Era hat einen kugelförmigen Netzkäfig entwickelt, der frei in den Meereswirbeln bei Hawaii treibt. In den "Floating Pods" genannten Käfigen zieht Ocean Era den Raubfisch Kona kampachi auf.

(Bild: Rick Decker)

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Lesezeit: 17 Min.
Inhaltsverzeichnis

Würde eine Spezies intelligenter Aliens die Menschheit aus dem All beobachten, würde sie stark an unserem Verstand zweifeln müssen. Denn die Ozeane speichern riesige Mengen an CO₂ und puffern so den Klimawandel ab. Ein Teil des Kohlendioxids wird schlicht chemisch im Wasser gelöst. Ein großer Teil wird aber auch von der "biologischen Pumpe" in die Tiefe verfrachtet: Pflanzliches Plankton nimmt CO₂ aus den obersten Wasserschichten auf, baut damit Biomasse auf, die von tierischem Plankton gefressen wird, das wiederum als Fischfutter dient. Ein Teil dieser Biomasse landet in Form von Fischkot, Kadavern oder abgestorbenen Pflanzenresten auf dem Meeresboden – mehrere Gigatonnen CO₂ pro Jahr werden so der Atmosphäre entzogen.

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Warum schützen wir die Weltmeere dann nicht viel stärker, würden die Außerirdischen sich vermutlich fragen – denn die Ozeane können uns als Nahrungsquelle und CO₂-Senke nur dienen, wenn die marinen Ökosysteme funktionieren. Aber die Ozeane der Welt leiden nicht nur unter Versauerung, Überdüngung und Vermüllung, sondern auch unter einem bereits Jahrzehnte andauernden Raubbau. Rund 90 Millionen Tonnen "aquatische Lebensformen" – vor allem Fisch – holt die Menschheit pro Jahr aus den Meeren. Doch die Welternährungsorganisation FAO geht davon aus, dass nur 60 Prozent der weltweiten Fischbestände "nachhaltig" befischt werden. Dabei kommt zur legalen Überfischung noch die illegale Fischerei obendrauf: Die FAO schätzt, dass jeder fünfte gefangene Fisch illegal gefischt worden ist – insgesamt hat der illegale Fang einen geschätzten Wert von bis zu 23,5 Milliarden Dollar pro Jahr.

Das Resultat ist wenig überraschend: Studien haben ergeben, dass sich die Biomasse der weltweit gefangenen Fische in der Zeit von der industriellen Revolution bis in die 1990er-Jahre etwa halbiert hat. Kein Wunder also, dass der Weltklimarat IPCC fordert, dass auch 30 bis 50 Prozent der Wasserflächen dieses Planeten schnellstmöglich geschützt werden müssen. Nur ein Teil dieser Schutzzone darf bewirtschaftet werden – und zwar nachhaltig. Doch wie soll das gehen? Schließlich geht es nicht allein um wirtschaftliche Interessen – Fisch ist auch eine wesentliche Proteinquelle für rund drei Milliarden Menschen.

Ein "weiter so" wird jedenfalls nicht funktionieren. Denn der Klimawandel wird die ohnehin schon schwierige Entwicklung noch weiter verschärfen. "Auf lokaler bis regionaler Ebene verschlimmert der Klimawandel die Auswirkungen anthropogener Faktoren wie Lebensraumzerstörung, Meeresverschmutzung, Überfischung, Nährstoffanreicherung und die Einführung nicht heimischer Arten", schreiben die Experten des IPCC in ihrem jüngsten Sachstandsbericht. Die globale Erwärmung werde die Biomasse in den Meeren je nach Emissionsszenario bis 2100 um zwischen 5 und 15 Prozent reduzieren. Aber das ist ein globaler Mittelwert, der lokal kleiner, aber auch sehr viel größer sein kann. Sehr viel häufiger auftretende Hitzewellen in den Ozeanen können zudem zu einem kompletten Zusammenbruch von einzelnen Ökosystemen führen sowie dem Absterben von Riffen, Seegraswiesen und Seetangwäldern.

Glaubt man den Resultaten von Justin Penn und Curtis Deutsch von der Princeton University, könnte die Geschichte sogar noch dramatischer ausgehen. Die beiden Ozeanografen veröffentlichten in Science das Ergebnis einer Modellrechnung, das für den Fall eines unkontrollierten Klimawandels ein Massenaussterben im Ozean prognostiziert, das mit dem schlimmsten in der Erdgeschichte vergleichbar wäre: dem großen Artensterben zum Ende des Perm-Zeitalters vor rund 250 Millionen Jahren.

Die weltweite Aquakultur-Produktion steigt kontinuierlich an und übersteigt seit einigen Jahren den gesamten globalen Fischfang.

(Bild: Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations)

Weil die Modellierung allen Lebens im Ozean zu komplex ist, griffen Penn und Deutsch zu einem Trick, der ihnen bereits vor einigen Jahren geholfen hatte, die räumliche Verteilung dieses großen Perm-Aussterbens zu rekonstruieren: Sie verglichen den metabolischen Sauerstoffbedarf von rund 10.000 Arten mit der Sauerstoffversorgung in einem bestimmten Meeresgebiet unter Berücksichtigung der jeweiligen Erwärmung. Wenn die Nachfrage nach Sauerstoff das Angebot an einem bestimmten Ort übersteigt, migriert die Spezies entweder – oder sie stirbt. "In einem Szenario mit hohen Treibhausgasemissionen reicht der Verlust von Lebensraum, um in beiden Fällen ein Massenaussterben zu verursachen", sagt Penn. Dabei sind Abhängigkeiten der Arten voneinander in der Nahrungskette nicht einmal quantifiziert. Es könnte also sogar noch schlimmer kommen. Die einzig gute Nachricht: Eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius könnte das große Sterben weitgehend verhindern.

Dieser Text stammt aus: Technology Review 5/2022

(Bild: 

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Vielleicht ist es aber auch schon zu spät. Zumindest für Orte wie die Ostsee. "Wir führen da seit Jahren ein Experiment durch, von dem keiner so genau weiß, wie es ausgeht", sagt Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Denn für die Funktion eines Ökosystems sind vor allem zwei Elemente essenziell wichtig: Die sogenannten "Keystone Species" und die "Top Predatoren" – die Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette – müssen in entsprechenden Mengen vorhanden sein. Und das ist dort nicht mehr der Fall.

"Sonne scheint, bringt Energie in das System, und das pflanzliche Plankton produziert daraus Nahrung", erklärt Froese. "Diese Schwebealgen sind sehr klein – nur Bruchteile eines Millimeters. Sie werden von Zooplankton gefressen. Das sind hauptsächlich winzige Krebse, die nur wenige der größeren Tiere fressen können, wie etwa Sprotten, Heringe, Sardinen und Sardellen. Diese transportieren die Nahrungsenergie in den Zentimeterbereich, wo sie für Raubfische, Vögel und Meeressäuger zugänglich ist."

In der westlichen Ostsee sind Hering und Sprotte also solche Keystone Species. An der Spitze der Nahrungskette steht dort der Dorsch als Top Predator. Bis jetzt. Denn seit einigen Jahren sind die Bestände von Sprotte, Hering und Dorsch in der westlichen Ostsee zusammengebrochen. "Was passiert jetzt mit dem System?", fragt Froese. "Ganz ehrlich, wir wissen es nicht. Aber es gibt eine Vermutung: Quallen fressen Zooplankton, können also die Lücke füllen, die durch das Wegfischen von Hering und Sprotte in der westlichen Ostsee entstanden ist." Es könne aber auch andere Ausbrüche geben, wie etwa die massenhafte Vermehrung von Stichlingen oder Garnelen oder Asseln oder Algen und Bakterien.

Die Hauptursache für die zusammengebrochenen Bestände von Hering und Dorsch in der westlichen Ostsee sieht Froese in der Überfischung. "Von Dorsch und Hering in der westlichen Ostsee wurde bis zu dreimal mehr rausgenommen, als pro Jahr produziert wurde", sagt er. "Die Bestände wären auch ohne Klimawandel zusammengebrochen. Der Klimawandel kommt nur obendrauf." Würde man die "Misswirtschaft beenden", könnten sich die Bestände wieder erholen, "solange es hoffentlich noch möglich ist".

Christian Möllmann von der Universität Hamburg ist da wesentlich weniger optimistisch: Er hat gemeinsam mit Kollegen 2021 eine Studie veröffentlicht, die eine Kombination aus Überfischung und Klimawandel für eine "irreversibel kleine Vermehrungsrate" der Dorschbestände in der Ostsee verantwortlich macht. Die Forschenden nutzen für ihre Arbeit ein abstraktes mathematisches Modell aus der sogenannten Katastrophentheorie, das einen "Regimewechsel" in dem Ökosystem diagnostiziert. Mit anderen Worten: Auch wenn die Bestände nicht mehr befischt werden, würden sie sich auf absehbare Zeit nicht wieder erholen.

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Unabhängig davon sind sich alle Experten jedoch einig, dass es darum gehen muss, die Überfischung zu stoppen. Die ist zwar verboten, aber letztendlich geht sie weiter, klagt Froese: "Ich war sehr engagiert in der letzten Reform der Europäischen Gemeinsamen Fischereipolitik", sagt er. Seit 2014 gibt es dazu ein europaweites Gesetz. "Da steht drin, dass ab 2020 mehr nicht überfischt werden darf, Punkt. Keine Ausreden, keine Ausnahmen. Fakt ist aber: Im Jahr 2020 wurden etwa 40 bis 50 Prozent der Bestände weiter überfischt, und zwar nicht illegal, sondern legal, weil unsere Landwirtschaftsminister einfach höhere Fänge vorgegeben haben, als die Bestände durch Wachstum ausgleichen können", sagt Froese. "Mit anderen Worten: Das System funktioniert nicht."

Das Bundeslandwirtschaftsministerium sieht das naturgemäß anders. Um zu verhindern, dass die Bestände sich nicht mehr erholen, wurde für die "Dorschbestände die gezielte Fischerei eingestellt und es wurden jeweils sehr restriktive Beifangmengen festgesetzt", schreibt Michael Hauck, Sprecher des Ministeriums. Doch der Teufel steckt im Detail. Froese plädiert dafür, die Fische erst dann zu fangen, wenn sie groß genug sind, also ihr maximales Wachstum erreicht haben und sich mehrfach fortgepflanzt haben – was praktisch bedeuten würde, nur Netze mit größerer Mindestmaschenweite zuzulassen. Eine solche Regelung sei bereits in Kraft, entgegnet das Ministerium, eine "präzise und gerichtsfest kontrollierbare Definition der Maschenweite" sei jedoch "schwierig". Zudem könne eine schlichte Erhöhung der Maschenweite dazu führen, "dass der Fangaufwand steigt. Dadurch kann auch die Menge an Beifängen zunehmen." Das dem Ministerium zuarbeitende Thünen-Institut für Ostseefischerei arbeite deshalb bereits an der Entwicklung selektiver Schleppnetze mit "artspezifischen Fluchtgittern", durch die beispielsweise Dorsche entkommen, während Schollen im Netz bleiben. Die EU-Kommission bereite zurzeit eine Verordnung vor, die den Einsatz solcher Netze verpflichtend mache, schreibt das Ministerium. Einen Zeitplan dafür gibt es nicht.

Wenn wir in Zukunft weniger Fisch aus dem Meer bekommen, könnte Aquakultur diese Lücke schließen? Betrachtet man die Zahlen der FAO, sieht es beinahe so aus: Seit den 1970er-Jahren geht die Produktion von Fisch, Meeresfrüchten und Algen aus Aquakultur an Land und im Meer steil nach oben. Mittlerweile hat die Produktion aus Aquakultur mit der Fischerei gleichgezogen. Allerdings ist die Produktion von Fischen aus Aquakultur für Froese nur eine scheinbare Lösung: "Aquakultur bedeutet überwiegend die Produktion von Raubfischen", sagt er. "Die müssen mit Fleisch gefüttert werden. Aber eigentlich sind diese Futterfische wichtig für die Ernährung in den Entwicklungsländern."

"Das ist falsch gerechnet", widerspricht Harry Palm von der Universität Rostock. "Aquakultur ist die nachhaltigste Form der hochwertigen Proteinproduktion. Für ein Kilogramm Fisch brauchen Sie im Schnitt 1,2 Kilogramm Futtermittel. Bei Rindfleisch ist diese Food Conversion Rate bei 5. Außerdem haben Sie einen viel höheren Flächenverbrauch", sagt Palm. "Wenn wir hier in Deutschland 200 Rinder auf einem Hof mit zehn Hektar halten, bedeutet das, Soja aus Brasilien zuzufüttern – und dafür hacken wir den Regenwald in Brasilien ab." "Vom Standpunkt der Nachhaltigkeit", sagt er, "müssten wir die traditionelle Landwirtschaft herunterfahren und Aquakultur massiv fördern."

Umweltschützer kritisieren allerdings das Aquafarming – vor allem das im Meer. Denn um die Kosten niedrig und den Ertrag hochzuhalten, muss man möglichst viele Fische pro Käfig züchten. Die hohen Besatzdichten begünstigten die Verbreitung von Parasiten, zudem überdüngen die Ausscheidungen der Fische die Küstengewässer. In Chile, wo sich aufgrund von laxen Umweltbestimmungen sehr viele Aquafarming-Betriebe angesiedelt haben, verenden immer wieder große Mengen an Lachsen an den Folgen eines unkontrollierten Algenwachstums – zuletzt 2021. Außerdem brechen die Lachse auch aus den Farmen aus. Die auf der Südhalbkugel eigentlich nicht heimischen Tiere haben sich mittlerweile in Chile ausgebreitet.

Um von den in der Regel bereits stark genutzten Küstengewässern wegzukommen, arbeiten einige Unternehmen daher an Konzepten für das Offshore-Aquafarming. Technisch ist das allerdings erheblich aufwendiger – und damit auch teurer. Mit seiner Ocean Farm 1 hat das norwegische Unternehmen SalMar Ocean AS dennoch 2017 fünf Kilometer vor der norwegischen Küste eine auf die Offshore-Bedingungen angepasste Pilotanlage für 1,3 Millionen Lachse in Betrieb genommen. Die im Meer schwimmende, 68 Meter hohe Stahlkonstruktion hat einen Durchmesser von 110 Metern. Die Fische werden durch Röhren unter Wasser gefüttert, damit sie zum Fressen nicht an die Oberfläche schwimmen.

Die Ocean Farm 1 kann bis zu 1,3 Millionen Lachse beherbergen. Sie hat einen Durchmesser von 110 Metern und liegt fünf Kilometer vor der norwegischen Küste.

(Bild: SalMar, www.salmar.no)

Im Wesentlichen gelang der Testlauf, offenbarte allerdings auch technische Schwächen und Pannen: So ließen Mitarbeiter im September 2018 versehentlich eine Inspektionsluke offenstehen, und die Konstruktion kippte zu tief ins Wasser – was rund 16.000 Lachsen den Weg in die Freiheit ebnete. Bei Inspektionen der norwegischen Fischereiaufsicht wurden zudem zweimal Risse im Netz des Käfigs gefunden, durch die "kleinere Mengen" an Fischen entkommen sind. Das Unternehmen wertete den Versuch trotzdem als Erfolg – immerhin konnte SalMar in zwei Produktionszyklen insgesamt rund 10.000 Tonnen Lachs einfahren – und lässt zurzeit eine Offshore-Farm für drei Millionen Lachse bauen.

Extrem ambitioniert ist auch ein zweites Projekt aus Norwegen: "The Egg" von Hauge Aqua. Der eiförmige, geschlossene Tank soll fast vollständig im Wasser liegen. Zwei Pumpen saugen Wasser aus bis zu 38 Metern Tiefe in das Ei. Das Wasser wird durch die gebogenen Wände in eine kreisförmige Bewegung versetzt, was das Ausfiltern der Fäkalien erleichtern soll. In drei bis sechs Metern unter der Oberfläche wird das gefilterte Wasser dann wieder aus dem Tank gepumpt. Eine Million Fische sollen so, geschützt vor Räubern und Parasiten, in norwegischen Fjorden wachsen. An dem Plan hat das Unternehmen mehr als zehn Jahre gearbeitet – erst kürzlich präsentierte es eine kleine Demo-Anlage, die für 10.000 Fische geeignet sein soll. Wann der erste echte Versuch im Wasser startet, ist allerdings noch völlig unklar.

Das US-Unternehmen Ocean Era geht noch einen Schritt weiter: Es hat einen kugelförmigen Netzkäfig entwickelt, der frei in den Meereswirbeln bei Hawaii treibt. In den "Floating Pods" genannten Käfigen zieht Ocean Farm den Raubfisch Kona kampachi auf. Ganz ohne Nebenwirkungen ist auch das aber nicht: Aus Unterlagen für einen analogen Feldversuch vor der Küste von Florida, die Ocean Era bei der US-Umweltagentur EPA eingereicht hat, geht hervor, dass 20.000 Fische in einem solchen Pod pro Tag 140 Kilogramm Kot ins Wasser lassen – das entspricht 16 Kilogramm Stickstoffverbindungen. Das klingt nicht viel, aber für einen kompletten Produktionszyklus summiert sich das auf rund 2.700 Kilogramm Stickstoff.

Unter ökologischen Gesichtspunkten am besten seien deshalb Fischzuchtanlagen mit geschlossenen Kreisläufen, die an Land betrieben werden, sagt Aquakultur-Spezialist Harry Palm. "Werden diese dann noch mit der Pflanzenzucht kombiniert, entsteht mit der sogenannten Aquaponik ein höchst umweltfreundliches und nachhaltiges landwirtschaftliches Produktionsverfahren." Wenn schon Aquafarming im Meer, dann sollten insbesondere Anlagen mit "extraktiven Arten" wie Muscheln und Algen weiterentwickelt werden.

Auf diese Arten setzt auch Bela Buck vom Alfred Wegener Institut (AWI) in Bremerhaven. "Muscheln muss ich nicht füttern. Die ziehen ihre Nährstoffe direkt aus dem Wasser", sagt Buck. "Muscheln waren das billigste Eiweißprodukt nach dem zweiten Weltkrieg", sagt er, "aber inzwischen ist das bei uns ein bisschen in Vergessenheit geraten."

Neben Muscheln setzt Buck auf "Makroalgen" wie den Zuckertang. "Makroalgen sind wahre Tausendsassas", schwärmt er. "Die bauen ganz wunderbare Ökosysteme, die für unendlich viele Arten ein Zuhause bilden. Sie binden CO₂, und wenn ich die nicht direkt essen will, kann ich die Inhaltsstoffe für sehr viele Anwendungen gebrauchen: als Emulgatoren für Lebensmittel und Kosmetik, als Dämmstoff, als Futter und Dünger in der Landwirtschaft – ich habe sogar mal gelesen, dass man im Prinzip aus Zuckertang auch Sprengstoff gewinnen kann." "Low Trophic Aquaculture" (LTA) nennt Buck das. Aquakultur von Lebewesen, die weit unten in der Nährstoffpyramide leben.

Der "Shellfish Tower" besteht aus einem sechseckigen Gerüst, in das quaderförmige Boxen eingeklinkt werden. Die Boxen enthalten Bahnen aus Gewebe, auf denen sich Miesmuscheln oder Körbe mit kleinen Austern ansiedeln.

(Bild: Heasman et al. 2021)

"Und wenn man dann noch sagt, wir wollen nicht die gesamte Deutsche Bucht zupflanzen, dann kommt man schnell auf die Idee, Flächen zu nutzen, die ohnehin schon genutzt werden", sagt Buck. Seine Idee: an Offshore-Windfarmen Muscheln und Makroalgen zu züchten – und vielleicht später auch Fische. "Aber da draußen kachelt es so heftig, da müssen neue Systeme her", sagt er. In einem Gemeinschaftsprojekt mit Partnern aus Deutschland und Neuseeland haben Buck und seine Kollegen eine Art Unterwasserbeet entwickelt: Der "Shellfish Tower" besteht aus einem sechseckigen Gerüst, in das quaderförmige Boxen eingeklinkt werden können. Die Boxen enthalten wiederum Bahnen aus Gewebe, auf denen sich Miesmuscheln ansiedeln, oder Körbe mit kleinen Austern. An weiteren Modulen für die Algen- und Fischzucht wird noch gearbeitet. Die einzelnen Module können um das Zentrum gedreht und so gezielt in oder aus der Strömung bewegt werden. Ein zylindrischer Schwimmkörper in der Mitte sorgt dafür, dass die Konstruktion – fernsteuerbar – einige Meter unter der Wasseroberfläche treibt. Ein Anker hält die Konstruktion in Position. "Inzwischen haben auch deutsche Windparks erkannt, dass sie da mitmachen müssen", sagt Buck. Wenn alles gut läuft und das Projekt genehmigt wird, könne man schon bald ein Pilotprojekt vor der Küste von Helgoland starten. "Dann hoffe ich, dass wir den nächsten Schritt in die Zukunft machen können."

Rainer Froese dagegen hat eine sehr viel ehrgeizigere Vision: "Es ist doch jetzt schon so, dass um diese Aquakultur-Käfige in Norwegen heimische Arten herumschwimmen, die Futterreste fressen. Man kann also Fische anfüttern und so anlocken", sagt er. Automatisierte Fallen müssten dann nur noch Fische der richtigen Art und Größe detektieren, festhalten und dem Fischer eine Nachricht schicken. Der gefangene Fisch würde in Online-Auktionen zum Verkauf angeboten. Wenn er nach einer festgesetzten Zeit keinen Käufer gefunden habe, würde er wieder freigelassen. "In gesunden Meeren mit hoher Diversität und mit hoher Fischdichte wäre das kein Problem", sagt Froese. "Ich meine, wir können Helikopter auf dem Mars fliegen lassen. Wieso können wir nicht gezielt Fische, die in einer bestimmten Gegend schwimmen, fangen und vermarkten?" Gute Frage. Warum eigentlich nicht?

(wst)