Ökosystem Meer: Wie das Meer Nahrungsmittelquelle und CO₂-Senke bleiben kann

Das Ziel der aktuellen Weltnaturkonferenz ist es, 30 Prozent der Erdeoberfläche unter Schutz zu stellen. Wie kann das für Meeresfläche funktionieren?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 48 Kommentare lesen
Das US-Unternehmen Ocean Era hat einen kugelförmigen Netzkäfig entwickelt, der frei in den Meereswirbeln bei Hawaii treibt. In den "Floating Pods" genannten Käfigen zieht Ocean Era den Raubfisch Kona kampachi auf. , Rick Decker

Das US-Unternehmen Ocean Era hat einen kugelförmigen Netzkäfig entwickelt, der frei in den Meereswirbeln bei Hawaii treibt. In den "Floating Pods" genannten Käfigen zieht Ocean Era den Raubfisch Kona kampachi auf.

(Bild: Rick Decker)

Stand:
Lesezeit: 17 Min.
Inhaltsverzeichnis

Würde eine Spezies intelligenter Aliens die Menschheit aus dem All beobachten, würde sie stark an unserem Verstand zweifeln müssen. Denn die Ozeane speichern riesige Mengen an CO₂ und puffern so den Klimawandel ab. Ein Teil des Kohlendioxids wird schlicht chemisch im Wasser gelöst. Ein großer Teil wird aber auch von der "biologischen Pumpe" in die Tiefe verfrachtet: Pflanzliches Plankton nimmt CO₂ aus den obersten Wasserschichten auf, baut damit Biomasse auf, die von tierischem Plankton gefressen wird, das wiederum als Fischfutter dient. Ein Teil dieser Biomasse landet in Form von Fischkot, Kadavern oder abgestorbenen Pflanzenresten auf dem Meeresboden – mehrere Gigatonnen CO₂ pro Jahr werden so der Atmosphäre entzogen.

Online-Serie: Biodiversität

Warum schützen wir die Weltmeere dann nicht viel stärker, würden die Außerirdischen sich vermutlich fragen – denn die Ozeane können uns als Nahrungsquelle und CO₂-Senke nur dienen, wenn die marinen Ökosysteme funktionieren. Aber die Ozeane der Welt leiden nicht nur unter Versauerung, Überdüngung und Vermüllung, sondern auch unter einem bereits Jahrzehnte andauernden Raubbau. Rund 90 Millionen Tonnen "aquatische Lebensformen" – vor allem Fisch – holt die Menschheit pro Jahr aus den Meeren. Doch die Welternährungsorganisation FAO geht davon aus, dass nur 60 Prozent der weltweiten Fischbestände "nachhaltig" befischt werden. Dabei kommt zur legalen Überfischung noch die illegale Fischerei obendrauf: Die FAO schätzt, dass jeder fünfte gefangene Fisch illegal gefischt worden ist – insgesamt hat der illegale Fang einen geschätzten Wert von bis zu 23,5 Milliarden Dollar pro Jahr.

Das Resultat ist wenig überraschend: Studien haben ergeben, dass sich die Biomasse der weltweit gefangenen Fische in der Zeit von der industriellen Revolution bis in die 1990er-Jahre etwa halbiert hat. Kein Wunder also, dass der Weltklimarat IPCC fordert, dass auch 30 bis 50 Prozent der Wasserflächen dieses Planeten schnellstmöglich geschützt werden müssen. Nur ein Teil dieser Schutzzone darf bewirtschaftet werden – und zwar nachhaltig. Doch wie soll das gehen? Schließlich geht es nicht allein um wirtschaftliche Interessen – Fisch ist auch eine wesentliche Proteinquelle für rund drei Milliarden Menschen.

Ein "weiter so" wird jedenfalls nicht funktionieren. Denn der Klimawandel wird die ohnehin schon schwierige Entwicklung noch weiter verschärfen. "Auf lokaler bis regionaler Ebene verschlimmert der Klimawandel die Auswirkungen anthropogener Faktoren wie Lebensraumzerstörung, Meeresverschmutzung, Überfischung, Nährstoffanreicherung und die Einführung nicht heimischer Arten", schreiben die Experten des IPCC in ihrem jüngsten Sachstandsbericht. Die globale Erwärmung werde die Biomasse in den Meeren je nach Emissionsszenario bis 2100 um zwischen 5 und 15 Prozent reduzieren. Aber das ist ein globaler Mittelwert, der lokal kleiner, aber auch sehr viel größer sein kann. Sehr viel häufiger auftretende Hitzewellen in den Ozeanen können zudem zu einem kompletten Zusammenbruch von einzelnen Ökosystemen führen sowie dem Absterben von Riffen, Seegraswiesen und Seetangwäldern.

Glaubt man den Resultaten von Justin Penn und Curtis Deutsch von der Princeton University, könnte die Geschichte sogar noch dramatischer ausgehen. Die beiden Ozeanografen veröffentlichten in Science das Ergebnis einer Modellrechnung, das für den Fall eines unkontrollierten Klimawandels ein Massenaussterben im Ozean prognostiziert, das mit dem schlimmsten in der Erdgeschichte vergleichbar wäre: dem großen Artensterben zum Ende des Perm-Zeitalters vor rund 250 Millionen Jahren.

Die weltweite Aquakultur-Produktion steigt kontinuierlich an und übersteigt seit einigen Jahren den gesamten globalen Fischfang.

(Bild: Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations)

Weil die Modellierung allen Lebens im Ozean zu komplex ist, griffen Penn und Deutsch zu einem Trick, der ihnen bereits vor einigen Jahren geholfen hatte, die räumliche Verteilung dieses großen Perm-Aussterbens zu rekonstruieren: Sie verglichen den metabolischen Sauerstoffbedarf von rund 10.000 Arten mit der Sauerstoffversorgung in einem bestimmten Meeresgebiet unter Berücksichtigung der jeweiligen Erwärmung. Wenn die Nachfrage nach Sauerstoff das Angebot an einem bestimmten Ort übersteigt, migriert die Spezies entweder – oder sie stirbt. "In einem Szenario mit hohen Treibhausgasemissionen reicht der Verlust von Lebensraum, um in beiden Fällen ein Massenaussterben zu verursachen", sagt Penn. Dabei sind Abhängigkeiten der Arten voneinander in der Nahrungskette nicht einmal quantifiziert. Es könnte also sogar noch schlimmer kommen. Die einzig gute Nachricht: Eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius könnte das große Sterben weitgehend verhindern.

Dieser Text stammt aus: Technology Review 5/2022

(Bild: 

Technology Review 5/2022 im heise shop

)

Was braucht es, um die Biodiversität auf der Erde zu schützen? Und warum ist das so wichtig? Die neue Ausgabe der MIT Technology Review gibt Antworten. Das Heft ist ab dem 7.7. im Handel und ab dem 6.7. bequem im heise shop bestellbar. Highlights aus dem Heft: