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Tuning für Nerds

Karsten Schäfer

Autos lassen sich inzwischen komplett per Software steuern. Das nutzen nun auch Tuner, Hacker und Bastler für ihre Zwecke.

Eines Abends nach einer späten Vorlesung vertraute Brevan Jorgenson sein Leben zum ersten Mal dem Autopiloten an. Es war dunkel, und er war allein auf einem Interstate Highway unterwegs. Falls etwas schieflaufen würde, wollte Jorgenson keine anderen Menschen gefährden. "Aber alles lief ganz fantastisch", sagt Jorgenson, Student und technischer Berater an der University of Nebraska.

TR 9/2017

Das Besondere daran: Brevan Jorgenson saß nicht in einem Audi, BMW, Mercedes oder Tesla, sondern in einem Honda Civic, und der Autopilot war mehr oder weniger selbst gebaut: Ein Smartphone mit nach vorn gerichteter Kamera oben in der Frontscheibe anstelle des Rückspiegels, ein selbst gelötetes CAN-Bus-Interface für den Anschluss an die Steuergeräte des Autos und die nötige Software reichten aus. Das System nennt sich Neo. Die detaillierte Bauanleitung und die Software namens openpilot gibt es kostenlos im Internet. Die Kosten für die Hardware liegen bei rund 700 Dollar.

Solche Hacks sind nur möglich, weil Autos heutzutage fahrende Computer sind. Inzwischen wird so ziemlich jede Funktion, die ein Auto hat, digital gesteuert. Das spart Kabel sowie Schalter und bietet den Herstellern ganz neue Möglichkeiten für immer neue Funktionen. Denn ein Regensensor macht nur Sinn, wenn sein Steuergerät auch den Scheibenwischer einschalten kann. Flackernde Bremsleuchten bei starken Bremsmanövern können nur von einem Steuergerät geschaltet werden, das weiß, wie stark die Verzögerung ist, und eine Einparkhilfe kann nur funktionieren, wenn die Steuergeräte vollen Zugriff auf Lenkung, Gas und Bremse haben.

Das heißt aber auch: Wer Zugang zu dem Netzwerk an Steuergeräten eines Autos hat, kann fast jede Funktion des Autos steuern – Türen öffnen, verriegeln und Motor starten inklusive. Diese immense Fülle an Möglichkeiten löst natürlich Begehrlichkeiten aus und ruft Hacker auf den Plan. Einige wollen zeigen, wie verletzlich die rollenden Computer sind und Autohersteller unter Druck setzen, ihre Autos besser gegen Hackerangriffe zu schützen. Berühmt geworden sind die Jeep-Hacker Charlie Miller und Chris Valasek vor zwei Jahren. Ihnen gelang es erstmals, ein Auto – einen Jeep Cherokee – während der Fahrt aus der Ferne zu hacken und dann zum Anhalten zu bringen. Ein Jahr später zeigten die beiden Hacker dann, wie man auch das Steuer eines Jeep mit einem Laptop vom Rücksitz aus übernimmt. Der Wagen landete im Graben.

Andere aber wollen nicht den Herstellern helfen, Autos besser zu machen. Das machen sie lieber selbst. Sie motzen ihre Autos auf, verpassen ihnen die digitale Analogie zu Spoiler, Breitreifen und tiefergelegtem Fahrgestell. Sie sind die ersten Vertreter einer neuen Tuningszene. Sogar erste Firmen wie das Münchner Start-up Carly bieten ihre Dienste an. Nicht zuletzt haben die Autohersteller selbst gezeigt, wie leicht sie das Verhalten der Dieselabgasreinigung mit ein paar Zeilen Schummelcode an ihre Bedürfnisse anpassen können.

Ihre Ursprünge hat die Szene im sogenannten Chiptuning. Denn mit dem Einsatz von Katalysatoren wurden auch elektronische Motorsteuergeräte notwendig, um das Benzin-Luft-Gemisch konstant zu halten. Die Steuergeräte von damals waren noch sehr simpel, aber auch sie lasen Sensoren für Luft- und Wassertemperatur sowie die Stellung des Gaspedals aus. Mit diesen Informationen steuerten sie die eingespritzte Kraftstoffmenge und den Zündzeitpunkt. "Wer sich eingearbeitet hat, konnte das auch ohne Dokumentation – denn die wurde von den Herstellern nicht zugänglich gemacht – nachvollziehen und geänderte Kennfelder schreiben", sagt Reinhard Kolke, Leiter des ADAC Technik Zentrums. Kennfelder beschreiben zum Beispiel, wie viel Kraftstoff bei welcher Gaspedalstellung ins Ansaugrohr oder die Brennkammer gespritzt wird. Ändert man diesen Wert, hat der Motor mehr Leistung und Drehmoment.

Die Lust am Chiptuning ist bis heute ungebrochen, denn es verspricht mehr Leistung für relativ wenig Geld. Und es geht verhältnismäßig schnell und unkompliziert. Mussten früher die Chips teilweise noch von ihrer Platine gelötet werden, wird das neue Kennfeld heute einfach über die Diagnoseschnittstelle (OBD – On-Board-Diagnose) des Autos aufgespielt – das Motorsteuergerät geflasht, wie Fachleute sagen. Solche Tuning Files gibt es bei eBay im Paket für eine Fülle von Autos schon ab insgesamt 30 Euro.

Noch einfacher und schneller als das Flashen ist der Einsatz von Dongles, die auf die OBD-Schnittstelle gesteckt werden und dem Motorsteuergerät oftmals nur falsche Parameter wie etwa eine geringere Lufttemperatur vorgaukeln. Auch darauf reagiert die Motorsteuerung mit einer höheren Kraftstoffzufuhr.

Für beides müssen Autofreaks allerdings einen Preis zahlen. Beim klassischen Chiptuning "steigt die Gefahr, dass der Motor früher kaputtgeht, wenn die Mehrleistung ausgeschöpft wird – zum Beispiel durch den höheren Ladedruck", sagt Kolke. Wer bei eBay kauft, kann sich zudem über die Qualität nicht sicher sein. Schlimmstenfalls wird das Steuergerät zum unnützen Ziegelstein – ge-brick-t im IT-Jargon – und muss komplett ausgetauscht werden. Auch die Dongles "sind extrem schädlich, weil sie dem Motor andere Umweltbedingungen vorgaukeln. So was ist für die Haltbarkeit miserabel", sagt Avid Avini, Mitgründer von Carly, einem Start-up, das Apps zum Auslesen und Manipulieren von Steuergeräten anbietet.

Die Münchner wollen nun zeigen, dass Chiptuning einfach und relativ sicher sein kann – nachdem sie schon mit Apps zum Umprogrammieren von Funktionen wie der Anzahl des Blinkens nach Antippen des Blinkerhebels, dem manuellen Ein- und Ausschalten von Tagfahrleuchten oder der individuellen Anpassung des Kombiinstruments bei BMW-Fahrzeugen für Aufmerksamkeit gesorgt haben. "Mit unserer App gibt es auf Knopfdruck 30 bis 40 PS mehr. Die Tuning Files kommen nur von renommierten Tunern", sagt Avini. Sie hätten den Vorteil, mit der Carly-App plötzlich viel mehr Kunden zu erreichen.

In puncto Haltbarkeit ist sich Avini sicher, dass ein Motor Leistungssteigerungen von nur 30 bis 40 PS auf jeden Fall verkraftet. Auch TÜV-Zulassungen hat Carly schon für seine Kennfelder. Doch bisher wird noch intensiv getestet. Rund 50 Autos – überwiegend von bestehenden Kunden – hat das Start-up bisher getunt. Ein paar Tausend sollen es werden, bevor die Software weltweit in großem Stil ausgerollt wird.

Inzwischen bietet Carly neben BMW auch Apps für Mercedes, Audi, Seat, Skoda, VW und Porsche an. Für BMW sind die meisten Funktionen verfügbar. Für Porsche gibt es nur den Gebrauchtwagen-Check. Das klingt langweilig, ist aber ein sinnvolles Feature. Nutzer können erkennen, ob der Kilometerstand manipuliert wurde, was laut ADAC bei einem Drittel aller Gebrauchtwagen der Fall ist. Möglich ist das, weil der Kilometerstand zum Protokollieren von Fehlermeldungen in vielen Steuergeräten gespeichert wird. Beim Manipulieren lassen sich aber nur wenige dieser Kilometerstände überschreiben. "Wir decken ungefähr 95 Prozent aller Manipulationen auf", sagt Avini.

Ebenfalls bares Geld kann die Funktion zum Regenerieren des Dieselpartikelfilters wert sein. Denn der aus dem Abgas gefilterte Ruß muss alle 500 bis 1000 Kilometer abgebrannt werden, damit der Filter nicht verstopft. Dieses Abbrennen nennen die Hersteller Regeneration. Die App liest den Grad der Verrußung bei BMW aus und empfiehlt bei Bedarf eine Regeneration, die manuell vorgemerkt und dann bei höheren Geschwindigkeiten und warmem Motor durchgeführt wird. Wer mit seinem Diesel vor allem in der Stadt fährt, wird es der App danken, den Zeitpunkt dafür zu erfahren. Bleibt natürlich die Frage, warum BMW die Funktion nicht selbst einbaut.

Der Zugriff ist möglich, weil der Gesetzgeber seit 2004 vorschreibt, dass die Abgasparameter über OBD offen zugänglich sein müssen. Nur so können TÜV, Dekra und dergleichen die Abgase bei der Hauptuntersuchung an Bord messen. Doch die Tuningszene dringt noch viel weiter ein. Denn jenseits der OBD-Schnittstelle wird es erst richtig interessant – allerdings auch sehr viel gefährlicher. Für gestandene Hacker ist es kein Problem, an so ziemlich jede Funktion im Auto zu kommen. Schon mit ein wenig Geschick lässt sich etwa der Blinker einschalten oder im Stand der Drehzahlmesser manipulieren. Anleitungen dazu finden sich zuhauf im Netz. Damit wächst allerdings auch das Risiko, ungewollt Fehlfunktionen des Fahrzeugs auszulösen. Denn die Computerarchitektur ist keineswegs einheitlich, jeder Hersteller und oft sogar jedes Modell hat eigene Softwareprotokolle. "Ein Dongle von einem namenlosen Anbieter hat bei einem Auto in unseren Untersuchungen sogar mal die Servolenkung abgeschaltet", weiß ADAC-Technikchef Kolke.

Richtig brisant wird es, wenn Tuningfans die komplette Steuerung des Autos übernehmen wollen. George Hotz, dem mit 17 Jahren als Erstem ein Jailbreak beim iPhone gelang, war von Teslas Autopiloten so angetan, dass er einen eigenen baute, programmierte und als Nachrüstsatz "comma.ai" für 1000 Dollar verkaufen wollte. Doch die US-Bundesbehörde für Straßen- und Fahrzeugsicherheit (NHTSA) machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Daraufhin stellte Hotz sämtliche Anleitungen zum Bau des Steuergeräts Neo und seine Software namens openpilot bei GitHub für jedermann zum Download bereit. Neben einem Honda Civic und einem Acura ILX unterstützt openpilot inzwischen auch einen Honda CR-V Touring – allerdings erst als früher Prototyp.

Auf der Basis von comma.ai baute Brevan Jorgenson einen Honda Civic zum selbstfahrenden Auto um. Gut möglich, dass das System schon bald weitere Anhänger findet. Denn die nötige Hardware kann man inzwischen unter dem Namen Neodriven für 1500 Dollar fertig kaufen. Offiziell ist sie eine offene Hardwareplattform für alle möglichen Anwendungen rund ums Auto. Aber das dürfte wohl eher eine Sprachregelung sein, die verhindern soll, dass sich die NHTSA wieder einschaltet. (bsc [10])


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