Wikipedia und Wikia Search: Neutralität ist eine Herausforderung

Seite 2: Algorithmen und Spaß

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c't: Werden die Nutzer nur Feedback geben oder können Sie direkt Einfluss auf die verwendeten Algorithmen nehmen?

Wales: Beides ist der Fall. Nutch ist ein bestehendes Open-Source-Projekt der Apache Foundation, das wir zur Erstellung unserer Ergebnislisten nutzen. Wir gehören mittlerweile zu den Hauptzulieferern zu dem Projekt, arbeiten aber selbstverständlich mit der bestehenden Community zusammen.

c't: Sie sind nicht alleine bei der sozialen Suche. Ihr Konkurrent Mahalo bindet auch Freiwillige in das Projekt ein – bezahlt sie aber für ihre Arbeit. Könnte das ein Erfolgsmodell sein?

Wales: Bisher haben sie zumindest keinen Erfolg damit (lacht). Ich finde es gut, diejenigen zu bezahlen, die zum Ergebnis beitragen. Allerdings habe ich noch kein Konzept gesehen, wie man das vernünftig umsetzen kann. Ich glaube an freie Software und frei lizenzierte Inhalte. Mahalo hingegen verfolgt mehr den Ansatz eines klassischen redaktionellen Angebots. Sie können sicherlich einige gute Inhalte produzieren, aber ich glaube nicht, dass dies der richtige Ansatz für das Web 2.0 ist. Aber die Zeit wird zeigen, welches Konzept sich durchsetzt.

c't: Die Nutzer von Wikia scheinen sich viel lieber über Dinge auszutauschen, die ihnen Spaß machen: so zum Beispiel über World of Warcraft oder Star-Trek-Charaktere. Können Sie Internetsuche zu einem Projekt machen, das dem Nutzer tatsächlich Spaß macht?

Wales: Ich will es zumindest versuchen. Wenn man glaubt, dass die Leute umsonst für einen arbeiten, hat man ein sehr merkwürdiges Weltbild. Man muss den Nutzern einen Grund geben, das zu tun, was sie tun. Zum Beispiel stellt niemand bei YouTube Videos ein, weil er umsonst für das Unternehmen arbeiten will – die Nutzer verwenden die Tools, um ihre Videos zu verwalten und ein Publikum zu finden.

c't: Sind sie nicht besorgt, dass Wikia Search am Ende bei jeder Suche Tausende von Simsons-Fanseiten ausgibt?

Wales: Lassen Sie es mich anders formulieren: Die Herausforderung ist ein "systematischer Bias". Das heißt: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Lesern und den Autoren einer Seite. Dieses Problem haben wir auch in der Wikipedia: Wir fingen dort mit Themen an, die besonders für Leute interessant sind, die in der Wikipedia mitarbeiten: Technik-Themen, Geek-Kultur – bei anderen Themen wie der bildenden Kunst oder Wirtschaft sind wir eher schlecht aufgestellt.

Das Gleiche wird wahrscheinlich bei Wikia Search auftreten. Die besten Suchergebnisse wird es zunächst in den Themenbereichen geben, die für die Community besonders interessant sind. Wir müssen darauf achten, dass wir für immer neue Benutzerkreise attraktiv werden, sodass wir möglichst viele Interessen abdecken. Das ist eine der zentralen Herausforderungen des ganzen Projekts.

c't: In der deutschen Selbstbeschreibung der Wikipedia heißt es: "Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie" – wann wird Wikipedia zur Enzyklopädie?

Wales: Ich glaube, Wikipedia ist bereits eine Enzyklopädie. Die eigentliche Frage ist: Haben wir gute Informationen zu den Themen? Wenn wir uns die englische Wikipedia ansehen, bin ich ziemlich sicher, dass wir ziemlich jedes Themengebiet bis zu einem gewissen Grade abdecken. Wir werden aber noch lange Zeit gewisse Ungleichgewichte in der Wikipedia haben, die davon abhängen, wer sich an der Wikipedia beteiligt. Im Brockhaus haben wir ähnliche Ungleichgewichte – auch wenn wir sie nicht als solche wahrnehmen. Hier finden sich mehr Themen, die Professoren und Akademiker interessieren – aber fast nichts über die Simpsons.

c't: Wie steht es mit der Neutralität? In der deutschen Wikipedia werden in Artikel zu Wirtschaftsthemen tendenziell eher linke Thesen vertreten.

Wales: Im Normalfall regeln sich solche Dinge recht gut von selbst. Selbst wenn die Wikipedianer bestimmte Standpunkte vertreten, sehen sie die Notwendigkeit einer ausgeglichenen Darstellung der Themen. Wir haben manchmal Probleme mit Leuten, die an die biblische Schöpfungslehre und nicht an die Evolution glauben. Wir tendieren dazu, solche Leute als Verrückte zu behandeln – was viele davon auch sind. Doch dabei geraten wir in die Gefahr, valide Kritik an den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen zu übersehen. Wikipedia neigt dazu, die Standpunkte der "Geek-Intelligenzia" abzubilden. Aber ich glaube, wir schaffen es ziemlich gut zumindest, die wesentlichen Punkte in allen Themenbereichen korrekt abzuhandeln.

c't: Im Bereich Qualitätskontrolle gibt es aber noch Verbesserungsbedarf. So kündigten Sie vor anderthalb Jahren in Göttingen die Einführung stabiler Artikel-Versionen an, die von Nutzern und Experten auf Korrektheit überprüft werden sollten. Hat das Projekt Fortschritte gemacht?

Wales: Bedauerlicherweise nicht annähernd genug. Es ist fast peinlich, darüber zu sprechen – ich bin nicht mal sicher, was die Realisierung der stabilen Versionen zurzeit noch aufhält. Wir wollen allerdings sehr vorsichtig mit solchen Neuerungen sein, da sie das komplette System der Wikipedia verändern können. Wenn man ein solches Experiment startet, kann man es nicht einfach zum Misserfolg erklären und rückgängig machen – Menschen stellen sich auf die neuen Regeln ein, das gesamte soziale Gefüge ändert sich. Ich bin aber ziemlich sicher, dass wir bald eine Testversion veröffentlichen werden.

c't: Die neue Wikimedia-Geschäftsführerin Sue Gardner gab der c't vor einigen Wochen ein Interview. Darin sprach sie vom großen Finanzbedarf der Wikimedia Foundation. Glauben Sie, dass sie das benötigte Geld über Großspenden einnehmen können?

Wales: Ja, da bin ich mir ziemlich sicher. Die Frage ist nicht: Können wir überleben? Uns geht es um die Frage: Können wir unser Potenzial erreichen? An den stabilen Versionen sehen wir, dass wir bisher nicht die Möglichkeiten hatten, solche Projekte ordentlich voranzubringen. Ein weiteres Beispiel ist die Verteilung der Wikipedia-Inhalte in verschiedenen Sprachen rund um die Welt: Wir sind sehr gut in Englisch oder Japanisch, bei den afrikanischen Sprachen sind wir aber noch sehr schlecht. Wir überlegen, wie wir diese Menschen erreichen können. Dazu gehört etwas mehr als nur im Internet präsent zu sein, man muss das Projekt in den Ländern selbst bewerben. Momentan haben wir nicht die nötigen Finanzmittel dafür. Immerhin haben wir schon eine Konferenz "Wikipedia Academy" in Südafrika abgehalten. Wir würden gerne mehr solcher Aktionen starten, haben dafür derzeit aber noch nicht die notwendigen Ressourcen.

c't: Planen Sie Partnerschaften mit anderen Organisationen?

Wales: Ja, unbedingt. Als Kooperationspartner waren wir in der Vergangenheit für andere Orgnisationen etwas schwierig, da wir ein relativ loser Zusammenschluss von Freiwilligen sind. Mit uns zu verhandeln, war teilweise wie mit einem Zirkus zu reden. Sue Gardner entwickelt die Organisation weiter, stellt ein neues Team zusammen. Wir hoffen, bald in der Lage zu sein, um mit anderen Organisationen in vernünftiger Weise kooperieren zu können.

c't: Ihnen persönlich öffnet Wikipdia bereits heute viele Türen.

Wales: Das ist wahr. Neulich wurde ich bei einer Konferenz in Japan gefragt, wie man das Startkapital für neue Unternehmen organisieren kann. Ich sagte: Gründen Sie eine Stiftung, die eine der Top-10-Webseiten der Welt betreibt. Dann ist es einfach, Kapital zu beschaffen (lacht). Wäre ich der Mann, der ich vor sechs Jahren war – und hätte den Plan, eine Open-Source-Suchmaschine zu starten –, ich säße sicher nicht hier und müsste 25 Interviews in zwei Tagen geben. Allerdings sind die Erwartungen an meine neuen Projekte durch den Erfolg mit Wikipedia auch sehr hoch.