Wo die wilden Kerle wüten

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Sie werden als Internet-"Meme" bezeichnet, worunter man neue kulturelle Konzepte versteht, die ähnlich wie Gene mutieren und sich danach entweder durchsetzen oder nicht. Die Bilder und Worte in /b/ sind oft dazu gedacht, zu schockieren, und stecken daher voller Rassismus, Frauenhass oder anderen Haltungen jenseits jeder politischen Korrektheit. Schon mehrmals ist 4chan deswegen als das "Es" des Internet bezeichnet worden, was frei nach Freud jenen Teil des Netzes darstellt, in dem man Triebe ausleben und Bedürfnisse stillen kann.

4chan fällt nicht nur durch den Stil seiner Inhalte auf, sondern auch durch den radikalen Grad seiner Anonymität. Zwar ist Poole selbst in dem Forum unter dem Spitznamen "moot" bekannt, die meisten anderen Nutzer aber verwenden nicht einmal ein solches Pseudonym. Da es auf der Seite keine Möglichkeit zum Einloggen gibt, kann jede Nachricht unter jedem beliebigen Namen veröffentlicht werden. Etwa 90 Prozent der Nachrichten werden tatsächlich mit der voreingestellten Autorenangabe "Anonymous" ins Netz gestellt.

Damit wendet sich 4chan massiv gegen einen allgemeinen Trend zur persönlichen Verantwortung im Internet. Anonymität, ursprünglich als Garant für Meinungsfreiheit gefeiert, wird nun eher als Missgriff aus den Anfängen des weltweiten Netzwerks angesehen. Am deutlichsten zeigt sich dies am Aufstieg zahlreicher sozialer Netzwerke wie Facebook, StudiVZ oder Xing. Deren Reiz liegt sowohl für Nutzer als auch für Werbekunden unter anderem darin, dass sie die Lücke zwischen Online- und Offline-Identitäten schließen. Ein besonders eifriger Verfechter der Vorzüge "radikaler Offenheit" in Online-Interaktionen scheint Mark Zuckerberg zu sein, dessen ungewöhnlicher Werdegang gerade im Kinofilm "The Social Network" nacherzählt wird. In der Silicon-Valley-Elite steht er keineswegs allein mit der Erwartung, dass das Zurückdrängen der Anonymität eine tolerantere, friedlichere und profitablere Online-Welt bringen kann.

Christopher Poole hält dagegen, und der Erfolg von 4chan scheint ihm recht zu geben. Seine Popularität, die innerhalb eines Jahres auf Höchstwerte schnellte, verschaffte ihm sogar eine Einladung zur renommierten Technologie-Konferenz TED, auf der die weltweite Technologie-Avantgarde jährlich ihre neuesten Ideen präsentiert. Vergangenen Februar stand er dort in Turnschuhen und Kapuzenpulli am selben Rednerpult wie Bill Gates und Steve Jobs und hielt einen kurzen Vortrag – so nachdenklich und höflich, wie 4chan grob und hemmungslos sein kann.

Die Argumente für anonyme Kommunikation sind immer die gleichen: Menschen brauchen einen Ort, an dem sie die Wahrheit sagen können (etwa Korruption anprangern), ohne dass sie Repressionen fürchten müssen; oder einen Ort, an dem sie abweichende Neigungen offenbaren können, ohne Ausgrenzung, Mobbing oder Schlimmeres zu riskieren. Auch Poole verwendet diese Argumente. Aber was er da-rüber hinaus zur Verteidigung von Anonymität vorzubringen hat, ist gleichzeitig weniger erhaben und dennoch viel weitreichender: "Jeder Mensch hat einen Ort verdient, an dem er daneben sein kann."

Diese Einsicht musste auch in Poole erst reifen. Denn beim Start von 4chan war ihm an Anonymität noch nicht viel gelegen. Damals war er 15 Jahre alt, einziges Kind geschiedener Eltern, lebte bei seiner Mutter in einem Vorort von New York und schwärmte für japanische Zeichentrickfilme, auch bekannt als Anime. Diese Passion führte ihn zu einer guten Quelle für Bilder dieser Art: den Futaba Channel, ein beliebtes japanisches Imageboard, das unter englischsprachigen Fans auch unter seiner Webadresse 2chan.net bekannt ist.

Unter anderem fiel Poole auf, dass es den Nutzern von 2chan ausgesprochen leicht gemacht wurde, Beiträge zu veröffentlichen. Damals war ihm gar nicht bewusst, dass kulturelle Unterschiede zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum in Japan eine große Rolle spielen – auf gewisse Weise ist das Pflegen von zwei Identitäten dort kein Zeichen mangelnder, sondern eher von vorhandener Integrität. Ebenso wenig machte er sich Gedanken darüber, dass japanische Internet-Nutzer eine enge Beziehung zu ihren Online-Pseudonymen und anderen Alternativ-Identitäten haben. Und ihm war auch egal, dass der Futaba-Channel wie die meisten anderen Foto-Foren in Japan schon immer komplett anonyme Beiträge ohne jedes Login erlaubt hatte.