Wo die wilden Kerle wüten

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Zu den Finanziers von Canvas zählen Marc Andreessen, Programmierer des ersten grafischen Web-Browsers, und der frühe Google-Investor Ron Conway. Dass Leute wie sie auf jemanden wie Poole mit seiner unkonventionellen Geschäftsvergangenheit setzen, ist höchst bemerkenswert. Denn bisher hat 4chan eher als Gefahr denn als interessantes Unternehmen Schlagzeilen gemacht: Als im Jahr 2006 der 20 Jahre alte Jake Brahm die Sektion /b/ mit Drohungen über "schmutzige Bomben" bei den Spielen der Football-Topliga NFL überschwemmte, oder in diesem Juli, als Troll-Banden auf /b/ Todesdrohungen und andere Gemeinheiten gegen die elf Jahre alte Jessi Slaughter aus Florida veröffentlichten, die sich durch Videos auf YouTube unbeliebt gemacht hatte.

Trotz alldem aber haben viele Internet-Größen durchaus Interesse an 4chan als Geschäft entwickelt. Denn immerhin sind seine stetige Traffic-Zunahme und die geradezu epidemische Verbreitung seiner Inhalte genau die Art von nutzergetriebenem Erfolg, den ein Web-Unternehmen braucht, um virales Marketing zu betreiben. "Die Nutzer zum Mitmachen zu bewegen ist mit das Schwierigste", sagt David Lee, der als Business-Angel in Canvas investiert hat. Ob mit Gewinn oder ohne: Poole gehöre "zu den seltenen Unternehmern, die es schaffen, Leute zu aktivieren". Und das heißt etwas in einer Zeit, in der Anonymität als sicheres Mittel gilt, soziale Medien scheitern zu lassen. "Poole hat alte Wahrheiten in der Web-Branche infrage gestellt", sagt Jonah Peretti, CEO des Viralmedien-Start-ups BuzzFeed und Mitgründer der Blog-Zeitung Huffington Post. "Was er sagt, unterscheidet sich einfach enorm von dem, wie andere Leute über Communities denken."

Vielleicht wurde Poole gerade deshalb offiziell eingeladen, um im Hauptquartier von Facebook in Palo Alto vor Entwicklern zu sprechen. Ungefähr 80 Mitarbeiter hatten sich für die Veranstaltung in einen Konferenzraum ohne Stühle gequetscht, darunter auch Richard Cho aus der Personalabteilung, wo man in Gesprächen untereinander ebenfalls die Sprüche von 4Chan austauscht. Poole, so Cho, sei Mark Zuckerberg nicht unähnlich, denn beide hätten interessante Ansichten darüber, wie Menschen Informationen austauschen und Verbindungen knüpfen.

Vielleicht müssen sich die radikale Offenheit von Zuckerbergs Facebook und das, was man als die radikale Verschlossenheit von Pooles 4chan bezeichnen könnte, nicht einmal gegenseitig ausschließen. Vielleicht sind sie im Gegenteil sogar aufeinander angewiesen. Peretti formuliert es so: Wenn 4chan das "Es" des Internets ist, dann "ist Google so etwas wie das Ich und Facebook das Über-Ich". Wenn das stimmt, dann gibt es nur einen Weg zu verhindern, dass der Trend zu radikaler Transparenz am Ende die Seele des Internets tötet: Es muss eine Möglichkeit geben, ab und zu das Licht der Web-Öffentlichkeit zu verlassen, um eine Weile im Dunkeln zu verbringen – im Schattenreich der Verrückten. ()