Wo die wilden Kerle wüten

Inhaltsverzeichnis

Poole lud sich einfach den Quelltext der Futaba-Seite herunter, schrieb ihn auf Englisch um, wobei er die Bedeutung mancher Wörter nur riet und den Rest mithilfe der Übersetzungssoftware Babel Fish erledigte; im Oktober 2003 ging er mit dem Ergebnis unter dem Namen 4chan.org an den Start. Poole erinnert sich noch daran, wie Babel Fish die japanischen Schriftzeichen für den voreingestellten Nutzernamen mit "Nameless" übersetzte. Er machte daraus "Anonymous", und damit war diese weit reichende Weichenstellung erledigt.

"Es war keine prinzipielle Entscheidung", sagt Poole heute, "als 15-Jähriger habe ich mich für viele Sachen nicht besonders interessiert, für die ich heute wirklich eintrete. Ich bin da sozusagen hineingewachsen." Auch 4chan hat sich entwickelt. Zu Beginn hatte die Seite nur zwei Themenbereiche: /a/ für Beiträge über Anime und /b/ für alles andere. Im Lauf der Jahre fügte Poole weitere Themen hinzu. Heute gibt es fast 50 davon, darunter /v/ für Videospiele, /fa/ für Mode, /po/ für Papierkunst und Origami und mindestens drei für verschiedene Varianten von japanischen Erotik- und Porno-Comics. Jedoch von allen Rubriken ist /b/ am schnellsten gewachsen und hat Animes als Hauptgrund für die Existenz von 4chan längst hinter sich gelassen. Dabei ist /b/ die einzige Rubrik, für die es – abgesehen vom allgemeinen Verbot von Kinderpornografie und anderen Verstößen gegen US-Gesetze – keine expliziten Regeln gibt. Hier kommt deshalb das Versprechen der Anonymität am besten zum Tragen: die Freiheit zu sagen, was man will, ohne dafür Konsequenzen erwarten zu müssen.

Besucher von /b/ stoßen jedoch erst einmal auf einen Haufen von ständig recycelten Selbstreferenzen, Szeneausdrücken und Pointen-Bruchstücken, wie "herp derp", "newfag", "over 9000!", "So I Herd you like Mudkips", "serious business", "The Game (you just lost it)", "a hero" oder "Candleja". Wenn aber die anonymen Millionen von /b/ – die /b/-tards, wie sie sich selbst gern nennen – immer neue Variationen ihrer Lieblingsthemen in die Runde werfen, reifen die Witze für Eingeschworene auf diesem intellektuellen Komposthaufen, bis sie plötzlich als neues sogenanntes "Mem" im gesamten Internet populär werden.

Die Leute auf 4chan nennen all das "lulz". Abgeleitet vom Internet-Kürzel "lol" für "laughing out loud", bedeutet es im engeren Sinn Lachen, Spaß, billiges Amüsement. Im weiteren Sinn aber steht es auch für die wilde Kreativität, aus der das riesige Repertoire von /b/-Memes entsteht. Wenn die Anonymität auf 4chan für irgendetwas gut ist, dann für lulz. Poole erklärt das dadurch, dass feste Nutzernamen in anderen Online-Gemeinschaften die Kreativität ersticken können: Wenn es einen Namenszwang gebe (egal ob zu echten Namen oder Pseudonymen), werde ein neuer Nutzer, der zum Auftakt einen schlechten Scherz macht, schnell feststellen müssen, dass andere nichts mehr von ihm erwarten: "Sogar wenn du am achten Tag pures Gold veröffentlichst, werden sie sagen ,Der Typ nervt'."

Dies dürfte nicht das einzige Argument gewesen sein, das Poole im Sinn hatte, als er in seinem vierminütigen TED-Vortrag über die Bedeutung von 4chan als "Ort, an dem man daneben sein darf" referierte. Aber letztlich ist es der Grund dafür, dass er auf die Bühne durfte. Und es sieht so aus, als würde er aus dem gleichen Grund noch eine ganze Weile im Rampenlicht stehen.

Denn am 13. Mai 2010 beendete Poole nicht nur sein Grundstudium, sondern reichte auch bei der US-Börsenaufsicht eine Benachrichtigung über eine außeruniversitäre Aktivität ein: die Aufnahme von 625000 Dollar Kapital für ein neues Online-Projekt.

Der neue Dienst mit dem Namen Canvas soll noch in diesem Herbst an den Start gehen und wird im Gegensatz zu 4chan eine Möglichkeit bieten, sich einzuloggen. Poole hofft, dass die Seite dennoch weitgehend frei von "Eitelkeit und Ego" bleiben wird. Wie bei 4chan sollen Nutzer Beiträge auch anonym oder unter wechselnden Identitäten einstellen können. Über weitere Funktionalität hüllt er sich jedoch in Schweigen. In einem Interview mit der "New York Times" ließ er lediglich verlauten, dass es sich um ein Imageboard handeln würde, das auf "den neuesten Web-Technologien" basiere.