Web3: Im vollen Galopp vor die Wand – ein Kommentar

Seite 2: PR und andere Lügen

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Doch nehmen wir die Bewegung einfach mal beim Wort. Auf jeder Website von Web3-Projekten findet man den Begriff "Dezentralisierung". Das Web3 selbst wird ja auch gerne als das "dezentrale Web" bezeichnet. Aber ist es damit wirklich weit her? Der bekannte Hacker und Softwareentwickler Moxie Marlinspike hat sich einige bekannte Web3-Apps angeschaut, um das System zu verstehen. Sein Fazit: All die Versprechen von Dezentralität sind nur PR. Die bekannten Produkte wie Metamask, die die größte Zahl der Nutzerinnen und Nutzer einsetzen, hängen alle von einer Handvoll zentraler Dienste ab, die etwa den Zugriff auf die Ethereum Blockchain kapseln. Weil der Zugriff auf eine über ein Terabyte große, permanent wachsende Datenbank, die nicht auf Effizienz ausgelegt ist, eben keinen großen Spaß macht. Aber wenn ich mich eh auf irgendeine halbseidene Firma verlassen muss, um zu sehen, ob Alice oder Bob nun Bored-Schlauchboot-Monkey Nummer 17 besitzen, kann ich auch für ein paar Euro im Monat eine PostgreSQL Datenbank bei einem Cloudanbieter mieten und darin Besitzeinträge verwalten. Die Leuchttürme des Web3 selbst halten sich nicht an seine zentralen Werte und Versprechen.

Und welchen Wert haben die Werte des Web3 ganz praktisch? Während man dem Stakkato aus abstrakten Werten und technischen Fachwörtern ausgesetzt ist, ist es manchmal schwer, den Kontakt zum realen Leben zu behalten. Aber darum geht es bei der Entwicklung und insbesondere der Inbetriebnahme von Software. Welchen Wert hat abstrakte "Dezentralisierung"? Das Web heute ist auch technisch dezentralisiert, trotzdem sehen wir Monopolbildung. Dezentralität mag aus Gründen der Robustheit eines technischen Systems eine sehr wichtige Qualität sein, aber für das Leben der Menschen im Web sind noch ganz andere Dinge wichtig. So ist das Problem des Moderierens von Inhalten zur Abwehr von Spam, aber vor allem auch Übergriffen in dezentralen Netzwerken immer noch weitgehend ungelöst. Welchen konkreten Wert hat ein dezentrales Blockchain-basiertes Web, insbesondere für Marginalisierte, wenn es dadurch unmöglich wird, sich gegen verbale Übergriffe zu schützen?

Die Investoren, die das Web3 stützen, sind genau die Investoren, die schon am Web2.0 verdient haben. Aber nachdem die "Uber for X"-Welle aus Start-ups mittlerweile ihren Zenit überschritten hatte, brauchten sie neue Betätigungsfelder. Web3 war dafür ideal. Einerseits ist digitales Eigentum und die Spekulation damit in die Basistechnologie eingebaut, und andererseits konnte man ein diffuses Gefühl eines kaputten Webs und den Wunsch am nächsten Schritt, dem nächsten Innovationssprung mitzuarbeiten, bedienen.

Spekulation ist dabei das Stichwort. Denn die Innovationen des Web3 sind nicht technisch, sondern Finanzmarkt-bezogen. Kritiker*innen sagen gerne, dass Web3 ein Speedrun durch mehrere hundert Jahre Regulierung am Finanzmarkt ist. Denn all die Dinge, die aus guten Gründen und zum Schutz der Investierenden etabliert wurden, sind genau das, was heute die Aktivitäten im Web3 prägt. Die Website "Web3 is going just great" sammelt die größten Betrügereien im Web3 Kontext und wartet nahezu jeden Tag mit Unterschlagungen oder Diebstahl von Millionenbeträgen auf. Die Web3 Community hat dafür sogar eigene Begriffe wie "rug pull" etabliert, ohne dass die Normalität dieser Vorkommen scheinbar irgendwen zum Nachdenken gebracht hat.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Web3 muss man immer wieder gegen den eigenen Verstand ankämpfen. Man geht das System durch und stellt fest, dass Smart Contracts, nachdem sie deployed wurden, nur unter bestimmten Bedingungen und nur unter großen Kosten gepatcht werden. Dafür können aber alle Angreifer den Code lesen. Okay, so würde man doch niemals zentrale Softwarekomponenten für das Web bauen, so unvorsichtig kann doch niemand sein? Oder man stellt fest, dass NFTs, die angeblich die Zukunft digitalen Besitzes darstellen, einem weder irgendwelche Lizenzen oder Eigentum an irgendetwas geben noch garantieren, dass sie sich als einzige auf ein bestimmtes Objekt beziehen. Es kann doch alles nicht so dumm sein?

Aber aus technischer und auch soziotechnischer Sicht ist es das leider. Web3-Evangelisten werden nicht müde, von zukünftigen Wundern des nächsten Webs zu sprechen. Doch ähnlich wie schon vorher beim Blockchain-Diskurs sind alle Texte immer nur im Konjunktiv oder Futur I geschrieben. Konkrete, funktionierende Lösungen echter Probleme? Fehlanzeige. Alles, was Web3 bereitstellt, ist ein unregulierter Finanzmarkt, bei dem sich ein paar Investoren den großen Teil der Wertpapiere gesichert haben und diese nun mit großen Versprechungen an oft schlecht informierte und ungeschützte Anlegerinnen und Anleger verkaufen.

Es ist tragisch, wie viel Aufmerksamkeit und Kapital Web3 aufsaugt, es ist tragischer, wie jedes Prinzip guten ingenieursmäßigen Arbeitens bei der Entwicklung mit Füßen getreten wird. Aber am tragischsten ist eigentlich die Utopie und die Visionslosigkeit der Szene. Man kann den ursprünglichen Web-Evangelistinnen und -Evangelisten viel Naivität vorwerfen, mit ihren Träumen vom freien Zugang zum Wissen und der Kultur der Welt für alle, vom freien Internet. Aber immerhin hatten sie mehr Vision als "was wäre, wenn du mit einem Finanzinstrument auf Basis eines Affenbildchens spekulieren könntest?".

(mack)