Diesel-Skandal: EuGH stuft Thermofenster als verbotene Abschalteinrichtung ein​

Eine Software für Dieselfahrzeuge, die die Wirkung des Emissionskontrollsystems bei in Europa üblichen Temperaturen verringert, ist laut EuGH nicht statthaft.​

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(Bild: ddisq/Shutterstock.com)

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Neues Ungemach für Hersteller von Dieselfahrzeugen in der Abgasaffäre: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am Donnerstag in mehreren Urteilen entschieden, dass die von Autoherstellern vielfach genutzten Thermofenster, die die Abgasnachbereitung in bestimmten Temperaturbereichen herunterregeln, in der Regel eine grundsätzlich unzulässige Abschalteinrichtung darstellen. Da es sich um eine massive Vertragswidrigkeit handle, halten die Luxemburger Richter die Auflösung des Fahrzeugkaufvertrags so für nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Software für Dieselfahrzeuge, die die Wirkung des Kontrollsystems für den Ausstoß von Stickstoffoxid (NOx) unter oft erreichten Klimabedingungen verringert, ist seit Jahren umstritten. Ein solches Thermofenster drosselt die Abgasreinigung bei bestimmten Temperaturen, um schädliche Belagsbildung und Korrosion im Abgastrakt zu reduzieren. Der mit der Adblue-Technik zugefügte Harnstoff, der die Stickoxide verringern soll, kann erst ab 180 bis 200 Grad richtig dosiert werden. Autobauer wie Daimler und Volkswagen halten das Verfahren für legitim und notwendig, um Motorenschäden zu verhindern.

Käufer von VW-Dieseln mit einer solchen Software klagten vor österreichischen Gerichten aber gegen den Einsatz der Methode. Sie beantragten, ihre zwischen 2011 und 2013 geschlossenen Kaufverträge aufzuheben. Der österreichische Oberste Gerichtshof, das Landesgericht (LG) Eisenstadt und das LG Klagenfurt legten dem EuGH daraufhin mehrere Fragen zur Zulässigkeit eines solchen Thermofensters und zu etwaigen Ansprüchen der Kläger vor.

Nach Angaben dieser Gerichte gewährleistet das VW-Thermofenster die Einhaltung der EU-Grenzwerte für NOx–Emissionen nur, wenn die Außentemperatur zwischen 15 und 33 Grad Celsius liegt. Dies resultiere aus einem Update der Software der fraglichen Fahrzeuge, das Volkswagen vorgenommen habe, um eine zuvor klar rechtswidrige Version auszutauschen. Das deutsche Kraftfahrt-Bundesamt hatte zuvor eine Genehmigung für diese Aktualisierung erteilt: Es war zum Ergebnis gekommen, dass diese keine unzulässige Abschalteinrichtung enthalte.

Der EuGH weist nun mit seinen Entscheidungen in den Rechtssachen C-128/20, C-134/20 und C-145/20 darauf hin, dass Umgebungstemperaturen unter 15 Grad in vielen Mitgliedstaaten üblich sind. Die Emissionsgrenzwerte müssten trotzdem eingehalten werden. Daher schränke das VW-Thermofenster das System zur Abgasreinigung schon "bei normalen Nutzungsbedingungen" ein. Der alleinige Umstand, dass diese Einrichtung zur Schonung von Anbauteilen wie Abgasrückführventil, AGR-Kühler und Dieselpartikelfilter beitrage, mache sie noch nicht statthaft.

Anders könnten die Dinge laut dem Gerichtshof stehen, wenn nachgewiesen wäre, dass das Thermofenster ausschließlich notwendig sei, "um die durch eine Fehlfunktion eines dieser Bauteile verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden". Dabei müsste eine "konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs" bestehen.

Zur Zeit der Typgenehmigung der Software oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs dürfte zudem keine andere technische Lösung bestanden haben, um solche sehr schwerwiegenden Risiken abwenden zu können. Es sei Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob dies auf die hier zum Einsatz gekommene Abschalteinrichtung zutreffe. Es dürfe dabei nicht darum gehen, nur den Motor "vor Verschmutzung und Verschleiß" zu schützen.

Selbst wenn die beschriebene Notwendigkeit bestünde, erklären die Luxemburger Richter eine Abschalteinrichtung für unzulässig, "wenn sie unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres" greifen würde. Dies würde den Grundsatz der Begrenzung der Stickstoffoxidemissionen von Fahrzeugen unverhältnismäßig beeinträchtigen. Laut Gerichtshof ist für die Frage der Zulässigkeit zudem unerheblich, dass eine Abschalteinrichtung erst nach der Inbetriebnahme eines Fahrzeugs eingebaut wurde.

Hinsichtlich möglicher Ansprüche der Fahrzeugbesitzer verweist der EuGH auf die Richtlinie zum Kauf von Verbrauchsgütern von 1999, laut der die Betroffenen vom Verkäufer in der Regel eine Nachbesserung oder Ersatzlieferung verlangen können. Sorgt der Verkäufer nicht innerhalb einer angemessenen Frist für Abhilfe, dürfe der Käufer auch eine angemessene Preisminderung oder Vertragsauflösung verlangen.

Dazu entschied der EuGH, dass ein Auto nicht die vernünftigerweise erwartbare Qualität aufweist und daher vertragswidrig ist, wenn es trotz einer gültigen Typgenehmigung mit einer verbotenen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Ein solcher Verstoß könne auch nicht als geringfügig eingestuft werden, selbst wenn der Verbraucher beim Kauf des Fahrzeugs über das Thermofenster informiert gewesen wäre. Eine Rückabwicklung des Vertrags komme daher durchaus infrage, worüber nun die nationalen Gerichte entscheiden müssen.

Hierzulande hatte der Bundesgerichtshof (BGH) voriges Jahr erklärt, dass ein Thermofenster in einem Mercedes keinen Anspruch auf Schadenersatz nach sich ziehen kann. Der Einsatz einer solchen Steuersoftware allein reiche nicht aus, um eine Sittenwidrigkeit zu begründen.

Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hat trotzdem eine Musterfeststellungsklage gegen den Stuttgarter Autobauer eingereicht. Sie ist breit angelegt und bezieht sich auf weitere Vorrichtungen zur Abgasmanipulation. Ein ähnlich gelagertes "Einer für alle"-Verfahren gegen Volkswagen endete im April 2020 nach einer Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Braunschweig mit einem Vergleich, von dem gut 245.000 Besitzer von VW-Dieselautos profitierten. Sie bekamen zwischen 1350 und 6257 Euro zugesprochen.

(vbr)