Open-Source-Adventskalender: Der Audio-Editor Audacity

Open Source ist eine Insel im kommerzialisierten Internet. Bis zum 24. Dezember öffnet heise online jeden Tag "Kalendertürchen" mit dem Porträt eines Projekts.

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(Bild: Semisatch/KOALA STOCK/Shutterstock.com/heise online)

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Von
  • Nico Ernst
Inhaltsverzeichnis

Open Source ist eine Insel im kommerzialisierten Internet. Bis zum 24. Dezember öffnet heise online jeden Tag "Kalendertürchen" mit dem Porträt eines Projekts. Dies ist ein Adventskalender für Techies. In der durchkommerzialisierten digitalen Welt gehört fast alles zu einem Internet-Großkonzern. Deren Software ist weder offen noch frei. Als Gegenentwurf gibt es diese kleine Insel der Open-Source-Welt: Software, deren Code öffentlich einsehbar ist und unabhängig auf mögliche Sicherheitslücken und Hintertüren überprüft werden kann. Software, die frei genutzt, verbreitet und verbessert werden kann. Der Antrieb für die Arbeit ist oft schlicht die Freude, der Gesellschaft etwas Nützliches zur Verfügung zu stellen.

Der Open-Source-Adventskalender

Vom 1. bis zum 24. Dezember werden auf heise online Kurzporträts von Open-Source-Projekten erscheinen. In denen geht es um die Funktionen der jeweiligen Software, die Tücken, die Geschichte, die Hintergründe und die Finanzierung. Hinter einigen Projekten steht eine Einzelperson, hinter anderen eine lose organisierte Community, eine straff geführte Stiftung mit Hauptamtlichen oder ein Konsortium. Die Arbeit geschieht rein ehrenamtlich, oder sie finanziert sich über Spenden, Kooperationen mit Internetkonzernen, staatliche Förderung oder ein Open-Source-Geschäftsmodell. Egal, ob Einzelanwendung oder komplexes Ökosystem, ob PC-Programm, App oder Betriebssystem – die Vielfalt von Open Source ist überwältigend.

Hinter der Entwicklung von Open-Source-Software steckt oft die Idee der Demokratisierung von Technik: Was die großen Konzerne teuer verkaufen, soll zur freien Weiterentwicklung der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Wohl kaum ein Projekt hat im Bereich der Audioverarbeitung so viel zu dieser Idee beigetragen wie Audacity.

Während heute einfache Schnitt- und Mischfunktionen in zahlreicher Mediensoftware integriert sind, war das Ende der 1990er-Jahre noch nicht der Fall. Digitale Musik, befreit von physischen Datenträgern wie der CD, fasste durch den MP3-Codec des Fraunhofer-Instituts erst im privaten Bereich Fuß. Immer schnellere Festplatten und Prozessoren schienen es möglich zu machen, auch auf bezahlbaren Rechnern Audioverarbeitung durchzuführen. Im professionellen Bereich dominierten auf proprietäre Beschleunigerkarten angewiesene sündteure Lösungen wie Pro Tools. Das Gegenstück für zu Hause, wenn auch mit viel weniger möglichen Spuren und anfangs nur destruktiver Bearbeitung, bildeten günstigere Programme wie Cool Edit, das später von Adobe als "Audition" übernommen wurde – ein Vorzeichen für Audacity.

Audacity 1.2

Einen völlig freien und flexiblen Audio-Editor gab es aber noch nicht. Das müssen wohl auch Dominic Mazzoni and Roger Dannenberg an der Carnegie Mellon Universität bemerkt haben – beide keine Studenten mehr, Dannenberg hatte seinen Doktor der Informatik bereits 1982 gemacht. Die beiden begannen im Herbst 1999 ihr Projekt "Audacity", was auf Deutsch "Dreistigkeit" bedeutet. Denn dreist war es schon, die komplexe Materie der Audiobearbeitung mit viel Mathematik im Hintergrund von Softwarekonzernen befreien zu wollen. Folglich dauerte es auch bis Mai 2000 als die erste benutzbare Version fertig war, erst im Oktober erschien dann bei Sourceforge der erste Download, mit der Nummer 0.8 noch klar als unfertiges Projekt bezeichnet.

Es dauerte bis Juni 2002 für die Version 1.0, die dann endlich auch zuverlässig aufnehmen konnte – mit den damals hakeligen Audiotreibern war das für Entwickler von Audiosoftware eines der größten Probleme. Als kostenloser Editor war das Programm ab da ein voller Erfolg, laut dem Wiki von Audacity wurde der erste Meilenstein über eine Million mal heruntergeladen.

Ab dann wurde die Software von vielen Freiwilligen zügig weiterentwickelt, es gab Filter, Effekte, bessere Funktionen zum Mischen von mehreren Spuren, Übersetzungen und anderes. Der Look der Anwendung bildete immer klassische Recorder aus Tonstudios nach. Um das unter Windows, MacOS und Linux möglich zu machen wurde das Toolkit wxWidgets für die Benutzeroberfläche verwendet, das wie Audacity unter GPL-Lizenzen verfügbar war.

Bei proprietären Dateiformaten wie WMA musste aber immer hinterher entwickelt werden, mit der Zeit wurden aber auch Schnittstellen zu professioneller Software wie den VST-Plugins des Audiogiganten Steinberg möglich. Audacity hatte sich Ende der 2000er-Jahre zu einer ernsthaften Konkurrenz für Produktionen vom Podcast bis zum kompletten Musikalbum entwickelt.

Solche Projekte rufen immer auch die Größen der jeweiligen Branche auf den Plan, in diesem Fall die Muse Group. Die übernahm im April 2021 die Markenrechte an Audacity und sorgte in der Folge für reichlich Verwirrung, denn in neuen Versionen gab es Datensammelei und Tracking, unter anderem mit Google Analytics. Der Aufruhr in der Open-Source-Community war groß, und Muse machte schnell einen Rückzieher. Um zu verstehen, wie man überhaupt auf solch eine Idee kommen kann: Muse verdient sein Geld vor allem mit dem Verkauf von Noten, nicht Software, und hatte den Zugang zur eigenen Notenbibliothek und auch die Abrechnung in Audacity integriert.

Das bauten in Form von Forks freie Entwickler wieder aus, es gab schnell viele solche Abspaltungen des letzten ganz freien Codes. Das ambitionierteste Projekt heißt Tenacity, zu Deutsch: Beharrlichkeit. Die ist nun auch gefragt, denn ein Release in Form von direkt ausführbaren Dateien hat Tenacity noch nicht vorzuweisen. Eine letzte Meldung der Entwickler vom November 2021 bei Github macht aber immerhin Hoffnung: Das Projekt ist demzufolge noch nicht tot, nur etwas zurückgestellt. Wer der aktuellen Muse-Version von Audacity nicht traut, hat auf der Übersichtsseite des bisherigen Projekts noch die Wahl zwischen vielen älteren Ausgaben.

Siehe auch:

  • Audacity: Download schnell und sicher von heise.de

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