Polizei fürchtet Anonymität und Kryptographie im Netz
Der hessische Staatssekretär Harald Lemke empörte sich auf einem Polizeikongress über die staatliche Förderung verschleierter Kommunikationsstrukturen und warnte davor, die Vorratsdatenspeicherung als Allheilmittel anzusehen.
Als große "Grauzone der digitalen Welt" bezeichnet Harald Lemke, Staatssekretär im hessischen Innenministerium, die Möglichkeit zur Anonymisierung von Kommunikationsspuren im Cyberspace. "Das Internet 2010 ist anonym, alles ist verschlüsselt", warnte der Politiker am heutigen Mittwoch die rund 1000 Teilnehmer des 8. Europäischen Polizeikongresses in Berlin. Er warf die Frage auf, wie da die "öffentliche Sicherheit und Ordnung in dieser Nebenwelt sicher zu stellen sind" und sprach von einer enormen "strategische Herausforderung". Ein großer Dorn im Auge ist Lemke daher insbesondere, dass vom Bundeswirtschaftsministerium finanzierte Forschungsprojekte wie AN.ON nur "das einzige Ziel haben, anonymes Surfen zu erlauben".
"Glücksspiel und virtueller Sex wird von einer global agierenden Industrie angeboten, die von ständig wechselten Lokationen aus agiert", malte Lemke sein Szenario aus. Dabei unternahm er auch einen "Abstecher in widerwärtigste Form der Internet-Kriminalität: die Kinderpornographie". Heute würde man in diesem Feld die Täter zwar "alle kriegen", wie der Spiegel jüngst titelte. Aber nur, schränkte Lemke ein, "solange sie dumm und bequem sind". Müssten sie doch nur zum Datenschutzzentrum in Schleswig-Holstein gehen, empörte sich der Staatssekretär über den AN.ON-Projektpartner, um dort "praktische Hilfestellungen" zum Kaschieren ihrer Kommunikation zu bekommen. Dass man bei den Datenschützern sogar "gerichtliche Erfolge gegen das BKA feiert", könne selbst ihn als Norddeutschen "emotional machen". Denn was könne man der Bevölkerung noch bei einem Terroranschlag sagen oder einem Kleinkind, "das missbraucht wird", wenn die Taten über "steuerlich geförderte Internet-Kaskaden verschleiert werden"? Aber auch ohne Mittel vom Staat werde die Telekommunikationswelt auf Voice-over-IP (VoIP) umgestellt, wo sich jegliche Unterhaltung "mit einfachsten Mitteln" verschlüsseln lasse.
Mehr als um Kinderschänder sorgt sich Lemke angesichts dieses sich abzeichnenden abgeschirmten Netzes um die effektive Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und Terrorismus. "Hier können wir uns nicht mehr auf die Dummheit und Bequemlichkeit der Täter verlassen", erklärte der Staatssekretär. Diese würden vielmehr die technischen Möglichkeiten sehr schnell adaptieren. "Terroristische Strukturen werden an den Kommunikationsstrukturen ansetzen", ist sich Lemke sicher. Weitere Einschnitte in die Bürgerrechte scheinen ihm daher unerlässlich: "Wer den globalen Cyberspace 2010 nur unter den Blickwinkel Privacy betrachtet, verabschiedet sich von jeder ernsthaften Debatte", sagte der E-Government-Beauftragte Hessens. Eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik müsse den Schutz der Privatsphäre gegen Risiken unkontrollierbarer Infrastruktur abwägen.
Die von der Politik in Brüssel und Berlin geforderte Einführung einer Vorratsdatenspeicherung im TK-Bereich sieht Lemke allerdings nicht als Allheilmittel im Kampf gegen Kriminalität und Terrorismus. Allein über die Proxy-Server der Deutschen Telekom seien 2004 pro Sekunde eine Million der angeforderten reinen Verkehrsdaten ohne die eigentlichen Kommunikationsdaten gelaufen, stellte er klar. Bei dem prognostizierten Wachstumsfaktor 100 wären dies im deutschen Internet 2010 rund 24 Millionen Terabyte jährlich. Eine Speicherung dieser Daten würde trotz eines einberechneten rasanten Preisverfalls bei Festplatten gut 220 Milliarden Euro im Jahr verschlingen. Und damit seien die Datenmengen noch nicht einmal für die Auswertung indexiert. Lemke betonte daher, dass er "das aktuelle Thema Vorratsdatenspeicherung nicht diskreditieren" wolle. "Aber sie allein löst unser Problem nicht."
Die Polizei müsse insgesamt informationstechnisch weiter aufrüsten, da die Informationsverarbeitung der Kernprozess ihrer Arbeit sei. Gefragt sind laut Lemke nicht nur "leistungsfähige Werkzeuge zur Auswertung größter Datenmengen", sondern auch "effiziente Formen internationaler Zusammenarbeit" und direkt vernetzte, Hierarchien hintanstellende Online-Polizeistreifen. Der Staatssekretär warnte in diesem Zusammenhang davor, sich momentan nur auf den Ausbau des digitalen Behördenfunks zu konzentrieren. Vielmehr müssten alle täglichen Arbeitsabläufe der Polizei etwa durch ein standardisiertes Dokumentenmanagement oder die Integration unterschiedlicher Melderegister in Polizeisysteme weiter verbessert werden. Die knappen zur Verfügung stehenden Gelder würden dabei aber nur "suboptimal" ausgegeben. "Wir leisten uns in Deutschland den Luxus von neun Vorgangsbearbeitungssystemen", monierte Lemke. Drei würden reichen. (Stefan Krempl) / (jk)