Mercedes-Benz EQS im Test: Das leiseste Elektroauto der Welt

Stille ist ein Luxus, den man erst schätzen lernt, wenn man ihn erlebt. Mercedes setzt im EQS auf solchen hintergründigen Luxus, mit erstaunlichem Ergebnis.

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Mercedes EQS

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Die erste Fahrt in einem EQS werden Sie nie vergessen. Nach dem Einlegen der Fahrstufe gleitet die Kabine so lautlos durch die Stadt wie nie ein Auto zuvor. Der Antrieb: aufwendig abgekoppelt. Die Umgebung dringt nur sehr schwach durch die schallisolierten Doppelglasfenster. Die Hightech-Luftfilter lassen weder Feinstaub noch Gerüche hinein.

Mercedes hat einmal gesagt "Ein Luxus der Zukunft wird Privatheit sein". Damals ging es um autonome Autos im Rahmen des Showcars F 015. Der EQS zeigt, was es in Serie bedeutet. Er ist das leiseste Auto, das ich kenne, und angesichts seiner 2,5 Tonnen wohl auch das effizienteste. Es setzt auf der lange angekündigten reinen Elektro-Plattform auf, die bald noch einen EQE hervorbringen soll. Zur Premiere des EQS wollten Stuttgarts Ingenieure zeigen, was sie können, wo ihr Weg künftig entlangführt.

Sprechen wir offen: Der EQS ist kein schönes Auto. Der EQS fällt (vor allem in den dunkleren Lackierungen) im Straßenverkehr kaum auf. Im Gegenteil hält man ihn beim Anschauen für viel kleiner, als er ist, weil die Proportionen so ungewöhnlich sind. Der Blick gleitet ab wie der Wind. Es gibt keine klassische Motorschnauze, wie wir sie von Luxuslimousinen gewohnt sind. Vor dem EQS stehend erstaunt mich, wie tief die kurze Schnauze herunterkommt. Ob uns dieses Design mit der Zeit ans Herz wächst oder nicht, weiß niemand. Es zeigt jedoch sehr deutlich, worum es Daimler geht: um innere Werte. Wer ein Auto zum Protzen sucht, ist hier falsch, obwohl der EQS in Weiß oder im Zweitonlack doch etwas mehr auffällt. Die Welt des EQS dreht sich um die Insassen, also um die Kabine. Und die gibt es so nirgends besser.

Mercedes-Benz EQS außen (16 Bilder)

Die Zweifarblackierung vom Prototypen macht was her.
(Bild: Daimler)

Ein elektrischer Antrieb mit Untersetzungsgetriebe ist lauter, als die meisten Menschen denken. Vor allem erzeugt er viele Geräusche, die wir als unangenehm empfinden. Deshalb wird er wie ein Verbrenner üblicherweise etwas entkoppelt gelagert. Hierbei gibt es jedoch verschiedene Aufwandsstufen. Daimler entkoppelt die Motoren in der Längsachse in Gummilagern. Diese Gummilager wiederum liegen in einem Hilfsrahmen, der wiederum in der Querachse über hydraulische Lager vom Chassis entkoppelt ist. Um diese Schalldämmung sinnvoll zu nutzen, hängt der Klimakompressor mit am vorderen Antrieb.

Hinten das Ganze noch einmal, mit dem Unterschied, dass die Leistungselektronik oben auf dem Motor liegt. Dort konnte dessen Deckblech wie ein Lautsprecher Schall in die Kabine bringen. Deshalb tauschten die Entwickler kurz vor der Serienfreigabe das Blech gegen einen Sandwich-Verbund von zwei Blechen mit einer Kunststoffdämmung dazwischen. Zu diesen Entkoppelungen des Körperschalls kommt eine dicke Dämpfung des Luftschalls. Es gibt Häuser, die deutlich hellhöriger sind als dieses Auto. Das aus der Mercedes E-Klasse bekannte Schallschutzpaket dürfte im EQS die Preis-werteste Option sein.

Die größte Schallquelle am Auto sind die Reifen. Sie übertönen je nach Auto schon ab etwa 20 km/h alle anderen Geräusche. Wie die Motoren entkoppelt Mercedes die Radaufhängungen vom Chassis, sodass die lautesten Reifengeräusche auf der Autobahn die der anderen Autos sind. Die zweitgrößte Lärmquelle IM Auto ist der Wind. Hier kann die optisch gewöhnungsbedürftige Form des EQS groß aufspielen. Der Wagen gleitet durch den Wind wie ein Pinguin durch Wasser. Im Starkregen der Schweiz konnte man beim Hinterherfahren anhand der Gischt sehen, wie glatt die Luft das Auto umströmt.

Mercedes-Benz EQS Technik (10 Bilder)

Endlich fertig: Mercedes' Skateboard-Chassis für batterieelektrische Fahrzeuge
(Bild: Clemens Gleich)

Ohne Seitenwind bleiben die Seitenscheiben fast trocken, die Spiegel klar. Am Heck bilden sich zwei saubere, klare Wirbel. Die wenigen verbliebenen Insekten sind recht sicher vor ihm, denn der Luftstrom führt sie an der Scheibe vorbei. Der EQS bietet dem Wind trotz größerer Stirnfläche minimal weniger Widerstand als der hier ebenfalls sehr gute Porsche Taycan (cWA 0,50 zu 0,51 m²). Grund: ein cW-Wert von 0,20 – Rekord für ein Serienfahrzeug.

Das leise Gleiten kombiniert Mercedes mit dem aktuellen Stand ihrer Fahrhilfen. Das Auto regelt die Längsrichtung größtenteils allein, liest Schilder, beschleunigt am Ortsende, verzögert sanft auf ein Tempolimit oder eine Abbiegeanweisung der Navigation. Die Querregelung übernimmt die Technik auf der Autobahn größtenteils allein; auf engeren Landstraßen oder in der Stadt muss der Fahrer mehr selber lenken. Die Winkelgeschwindigkeiten der Lenkeingriffe begrenzt Daimler bewusst, denn ein geringerer Lenkeingriff führt bei Fehlinterpretation der Daten zu einem kleineren Fehler. Wer verstehen will, warum das so ist, kann sich die Videos von Teslas neuer Beta anschauen, die bei Fehlinterpretationen sehr große, gefährliche Fehler produziert.

Mercedes wird im EQS den Drive Pilot nach SAE Level 3 anbieten, wie er schon für die S-Klasse vorgestellt wurde, also mit kompletter Übergabe ans Fahrzeug auf freigeschalteten Strecken (erst einmal in Deutschland) bis 60 km/h, also vor allem bei zähem Verkehr und Stau. Das S-Klasse-System soll nach den Verzögerungen des Krisenjahrs Ende 2021 zugelassen sein, die Variante im EQS folgt 2022. Gar nicht mehr selber Stau fahren und ein Buch lesen klingt für mich nach der bestmöglichen Option für diese fahrende Schallschutzkabine. Musik hören gefällt genauso. Die Burmester-Anlage klingt bei entsprechend gutem Material, als schreie einen Freddy Mercury von direkt über dem Lenkrad an.

Das klingt jetzt alles nach "gefahren werden", weil Komfort in der Tat das Hauptthema dieses Autos ist. Wie die S-Klasse werden die meisten Kunden jedoch selber fahren, und der EQS fährt sehr schön. Man kann keine Fahrhilfen abschalten, doch man kann auf Sport schalten und sich in der Allradversion (EQS 580) viel krasser aus den Ecken ziehen lassen, als man es anhand der Leichtlaufreifen glauben würde. Dank Hinterachslenkung machen sogar enge Kehren Spaß, das Heck zieht nämlich nicht in den Scheitelpunkt hinein, sondern lenkt gegen, um den Gesamtradius zu verkleinern. Oder noch prägnanter: Wendekreis 10,9 Meter bei einer Fahrzeuglänge von 5,21 Metern. Das entspricht dem 4,28 Meter langen VW Golf 8.

Im überraschend wendigen Auto sitzt der Fahrer weit vorne und schaut durch das große Fenster auf keine Autoteile, sondern nur Umwelt. Die Front lenkt vorhersehbar, das Heck hält automagisch trotz langen Radstands den breiten Hintern auf Spur, es macht Spaß, dieses Auto zu fahren, und es fährt auf seine ganz eigene Art interessant. Das einzige Manko beim Fahren: Die große linke A-Säule steht in Linkskurven genau dort, wo die Blickführung hingeht. Manchmal kann man durch die weit nach vorn gespannte Seitenverglasung in die Kehre gucken. Letztendlich ist das fast egal, denn noch einmal ehrlich: Kein Käufer wird dieses Auto so fahren wie wir Pressedeppen über den Pass. Wer so etwas will, kauft einen Porsche (dort mit abschaltbaren Fahrhilfen).

Weil das so ist, hier mein ganz unverbindlicher Geheimtipp: Der bessere EQS ist der mit reinem Heckantrieb (EQS 450+). Zwar bleibt der Wendekreis gleich, doch er ist noch leiser, weil der dem Fahrer nähere vordere Antrieb wegfällt. In der Stille des EQS fiel mir von der Vorderachse nämlich auf, dass bei 60 km/h und Vielfachen von 60 ein resonantes GERÄUSCH in die Kabine schlüpft, und wenn die Lüftung herunterfährt, fällt das schon fast auf. Beim Heckantrieb nichts davon. 245 kW Boost-Leistung reichen für kräftige Beschleunigung, die Endgeschwindigkeit von 210 km/h bleibt gleich, und aufgrund etwas geringeren Gewichts und geringerer Fahrwiderstände fährt die Heckantriebs-Variante obendrein weiter und günstiger.

Mercedes-Benz EQS innen (12 Bilder)

Raumschiff!
(Bild: Daimler)

Klar: Diese riesige Glasscheibe mit Bildschirmen darunter, das macht was her. Hinter dem Hyperscreen sitzt man wie in einem Raumschiff, und gut zu reinigen ist er obendrein. Ich erwartete, dass die Standardoption wie so oft bei Premiumherstellern im Vergleich so mager ist, dass sie den Nichtkäufer der teuren Option bei jeder Fahrt schmerzhaft an seine Fehlentscheidung erinnert. Aber im EQS sitzt standardmäßig statt dem Hyperscreen das MBUX-Setup der S-Klasse. Das kann ich jetzt nicht soo schlimm finden.

Die leistungsfähige Hardware ist identisch zu der unter der großen Glasscheibe. Die Oberfläche mit den praktischen Overlays ("Zero Layer", siehe Bildstrecke) funktioniert praktisch gleich. Es fehlt außer dem "Whoa!"-Effekt nur der Beifahrerbildschirm, und ganz ehrlich: Was kostet ein iPad? Das kann alles besser als ein Infotainment-Bildschirm, der Automotive-Anforderungen entsprechen muss. So etwas könnte gerade für Fuhrpark-Verwalter interessant sein, denn mager ausgestattet ist das Auto selbst in der Grundausstattung nicht.

Der EQS bleibt mir in Erinnerung als das Auto mit der größten Schere zwischen äußerer Unauffälligkeit und inneren Werten. Wie leise und sparsam dieses Auto fährt, beeindruckt. Es gibt einen dynamischen Ladeplaner (der anders als in EQA oder EQV auch vernünftig funktioniert), er lädt mit bis zu 200 kW (400 V x 500 A) über eine pralle Ladekurve, er rekuperiert mit bis zu 290 kW, vor allem aber trägt die 107-kWh-Batterie in Verbindung mit dem geringen Verbrauch so weit, dass meistens die Insassen eine Pause wollen, bevor das Auto zur Ladestation muss. Bei üblichen Etappen von 2 bis 3 Stunden zwischen Stopps (messen Sie einmal mit Ihrer Familie, Ihrer Frau, allein) ist es praktisch egal, wie man das Auto fährt. Es reicht immer. Wer wirklich noch mehr Motivation für elektrische Fernfahrten braucht: Mercedes bezahlt EQS-Kunden im ersten Jahr alle Ionity-Ladekosten. Hallo, Gibraltar!

(cgl)