Ärzteverbände wollen männliche Unfruchtbarkeit stärker bekämpfen

In der Hälfte aller Fälle liegt ungewollte Kinderlosigkeit auch am Mann. Doch momentan konzentriert sich die Medizin stark auf Frauen. Helfen neue Standards?

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Mann beim Urologen

Mann beim Urologen: Bei männlicher Unfruchtbarkeit müssen mehr Standards her.

(Bild: Gorodenkoff / Shutterstock)

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Seit Jahren ist bekannt, dass die Fruchtbarkeit beim Mann abnimmt. Gab es zunächst genauere Zahlen aus den westlichen Industrieländern, die belegen, dass sich die Spermienkonzentration sowie die Spermiengesamtzahl in den vergangenen 30 Jahren fast halbiert haben, liegen entsprechende Angaben mittlerweile auch für den Globalen Süden, Asien und Afrika vor. Auch hier zeigt sich kein anderes Bild: Männern fällt es immer schwerer, Vater zu werden. Das alleine wäre schon schlimm genug, gäbe es nicht auch noch ein anderes Problem:

Die genauen Gründe liegen im Unklaren. Es gibt diverse mögliche Ansätze – von der chemischen Revolution samt Pestizideinsatz über Mikroplastikverschmutzung bis zur modernen Lebensweise –, doch eine Festlegung samt Heilungsmöglichkeit lässt sich schlicht nicht treffen. Schlimmer noch: Die Diagnostik hängt massiv hinterher, sorgt dafür, dass Betroffene, wenn es dann beim Kinderwunsch einfach nicht klappt, aus allen Wolken fallen. Das alleine sorgt für enorm viel Leid in den Familien und bei den Betroffenen selbst.

Die Deutsche Gesellschaft für Andrologie e.V. (DGA), die Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU) und der Berufsverband der Deutschen Urologie e.V. (BvDU) haben deshalb im November einen Aufruf samt Konsenspapier verfasst, um die Versorgungslage von Männern, die von Infertilität betroffen sind, zu verbessern. Es geht darum, endlich einheitliche medizinische Standards aufzustellen, wie sie bei der Behandlung unfruchtbarer Frauen längst vorhanden sind, beim Mann bislang – aus unklaren Gründen – noch fehlen. Derzeit gilt in Deutschland jedes sechste Paar als ungewollt kinderlos, sodass medizinische Hilfe hermuss. Man geht davon aus, dass in mindestens der Hälfte aller Fälle der männliche Partner zumindest beteiligt ist.

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DGA, DGU und BvDU haben nun einen Katalog erstellt, der "medizinisch relevante Untersuchungen des infertilen Mannes auf der Grundlage der gültigen rechtlichen Rahmenbedingungen und des bekannten Wissens über Ursachen" definiert. Er soll künftig flächendeckend in der andrologischen Versorgung etabliert werden, "um eine bestmögliche und effiziente Versorgung der Betroffenen sicherzustellen", so die Ärzte. Ein zentrales Problem bleibt, dass die Kassen sich auf die aktuelle Situation noch gar nicht eingestellt haben. Behandelbare Ursachen männlicher Zeugungsunfähigkeit müssen zum Teil privat bezahlt werden oder werden daher ganz unterlassen. Da wundert es nicht, dass die drei Verbände auch notwendige Veränderungen bei der Vergütung einfordern.

Das könnte letztlich sogar Kosten sparen: "Insbesondere vor dem Einsatz von medizinisch assistierten Reproduktionsverfahren, bei den betroffenen Paaren identifiziert und gegebenenfalls therapiert werden, um unnötige invasive reproduktionsmedizinische Maßnahmen, mit Risiken speziell für die Frau, zu vermeiden." So absurd das klingt: Derzeit werden die Partnerinnen nicht selten unnötigen Eingriffen unterzogen, weil beim Mann nicht ausreichend nach Lösungen gesucht wurde. Kommt es etwa zu einer Verbesserung der Spermienqualität, ist eine belastende In-vitro-Fertilisation (IVF) womöglich gar nicht mehr notwendig. Doch wo beim Mann nicht therapiert wird, erhält die Frau eine gesundheitsschädliche Überversorgung.

Vielen – einschließlich der Politik – ist unklar, dass es sich bei Fruchtbarkeitsstörungen längst um Volkskrankheiten handelt, deren Verbreitung pandemische Züge annehmen könnte. "Da die Fruchtbarkeit durch sozio-ökonomische Faktoren, aber auch durch Umwelteinflüsse und angeborene Störungen negativ beeinflusst wird, steigt auch die Zahl der Fertilitätsbehandlungen", schreiben die Ärzte. Es fehlt demnach an leitliniengerechten Untersuchungen infertiler Männer, die erst Voraussetzung für eine medizinisch begründete Therapieempfehlung für das Paar insgesamt ist. Eine interdisziplinäre Indikationsstellung zu assistierten Reproduktionsverfahren müsse her, so DGA-Chefin Prof. Dr. Sabine Kliesch. Die ist derzeit beim Mann keineswegs flächendeckend vorhanden. "Konsentierte Diagnostik kann unnötige reproduktionsmedizinische Behandlungen der Frauen verhindern", bringt es Kliesch auf den Punkt. Solche IVF-Behandlungen, die gerade bei Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes oft auch mit einer ICSI (intrazytoplasmatische Spermieninjektion) einhergehen, sind teuer, werden von den Kassen aber immer noch nur zur Hälfte bezahlt – und das maximal für drei Versuche. Frauen müssen sich dabei physischen Eingriffen und oft sehr unangenehmen Hormonbehandlungen unterziehen, und ein Erfolg ist nicht garantiert.

Entsprechend wichtig ist es, die Lage beim Mann abzuklären. Bei bestimmten Formen von Erkrankungen wie einer stark eingeschränkten Spermienzahl (Oligozoospermie) oder dem vollständigen Fehlen von Samenzellen im Ejakulat (Azoospermie) gibt es oftmals genetische Ursachen. Man schätzt, dass diese bei 20 Prozent aller Fälle von männlicher Unfruchtbarkeit vorkommen. Doch eine weiterführende Gendiagnostik findet hier nicht immer statt, die Ursachen aufzeigen könnte – oder zumindest Männern einen Hinweis, woran es bei ihnen denn liegt. Bei einer noch viel zu großen Gruppe zeugungsunfähiger Männer fehlt es gänzlich an Informationen, woran diese denn liegt. Doch auch ein Azoospermie ist womöglich behandelbar, wenn man Samenzellen direkt aus den Hoden entnimmt. Doch dafür braucht es entsprechend ausgebildete Spezialisten – und vor allem ein direktes Angebot an Betroffene, die darüber nicht immer aufgeklärt werden.

DGA, DGU und BvDU haben neben der Empfehlung, die Gendiagnostik auszubauen, leicht einzuhaltende Standards definiert, die im Konsenspapier zusammengefasst wurden. Es gibt Standard- und Basisuntersuchungen sowie weiterführende Untersuchungen. Zu den Basisuntersuchungen gehören Eigen-, Familien- und Paaranamnese samt Sexualanamnese. Es werden Medikamente und Genussmittel erfasst und zunächst körperlich geprüft, ob sich physiologische Gründe finden lassen. Dazu gehört eine sonographische Untersuchung der Hoden zur Erkennung von Tumoren oder Varikozelen (Krampfaderbildung im Bereich der Hodenvenen), die die Fertilität einschränken. "Ein zentrales Element der Diagnostik ist das Spermiogramm nach WHO-Standards als Grundlage für die Ejakulatdiagnostik. Endokrine Untersuchungen erfordern zunächst eine Basisdiagnostik mit Hormonanalysen von LH, FSH und Testosteron, um Störungen der Hodenfunktion zu identifizieren", so das Konsenspapier.

Betroffene Männer sollten ihren Uro- oder Andrologen fragen, ob er das Konsenspapier kennt und ob es von ihm eingehalten wird. Bislang kommt es vor, dass die Untersuchung des Mannes bei einer Kinderwunschbehandlung nur ein "Anhängsel" ist, das von der vor allem auf die Versorgung der Frau ausgerichteten Praxis durch externe Urologen angeboten wird. Es ist daher klug, sich bei einem entsprechenden Verdacht eine Zweitmeinung einzuholen oder gleich zu einem Andrologen zu gehen, der konkret auf Fruchtbarkeitsprobleme beim Mann spezialisiert ist. Die Andrologie ist das Äquivalent zur Gynäkologie, wird von Männern aber zumeist erst dann eingeschaltet, wenn es bereits zu Problemen kommt. Eine Vorsorge existiert in diesem Medizinfeld bedauerlicherweise praktisch nicht. Während Frauen mit Eintritt der Pubertät zum Frauenarzt gehen, gibt es beim Mann den routinemäßig besuchten Männerarzt nicht. Dabei existieren Zeugungsunfähigkeiten beim Mann, die, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, frühzeitig behandelt werden könnten.

"Angesichts der gesellschaftlichen Relevanz der Reproduktionsmedizin und des steigenden Versorgungsbedarfs unterstreichen DGA, DGU und BvDU die Dringlichkeit, den medizinischen Standard, der sich in Richt- und Leitlinien als relevant erwiesen hat und eine Voraussetzung für die Indikationsstellung der reproduktionsmedizinischen Maßnahmen darstellt, auch in der bevölkerungsweiten andrologischen Versorgung sicherzustellen", so die Ärzte in einem Statement. Nun müsse durch die Politik auch der "Weg für die adäquate Vergütung dieser Leistungen frei" gemacht werden.

(bsc)