Elektronische Patientenakte: Sorge vor Verlust von Zeit und Vertrauen

Die "E-Patientenakte für alle" soll ab 2025 durchstarten. Ärzte und Ärztinnen wie unsere Autorin befürchten hohe Aufwände und Vertrauensverlust ihrer Patienten.

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Mann mit zusammengefalteten Händen vor einem Laptop

(Bild: Andres Serna Pulido/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Dr. Karen von MĂĽcke
Inhaltsverzeichnis
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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Nach 20 Jahren Stagnation soll es jetzt schnell gehen. Lauterbach beschwört die "Aufholjagd in der Digitalisierung". Digitalisierung sei die Zukunft guter Medizin, sagte der Bundesgesundheitsminister. Unsere Praxen sind längst digitalisiert. Die Diabetespatienten in meiner Praxis tragen Blutzuckersensoren und teilen ihre Daten mit mir in Echtzeit. Ihre Insulinpumpen funktionieren mit Algorithmen, die den Blutzucker automatisch regulieren. Das sind echte Verbesserungen.

Die Telematikinfrastruktur (TI), die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen, sollte der Digitalisierungsturbo werden. Bei der Installation der Technik ("Konnektor") hatte ich jedoch gravierende Probleme, die mit unzähligen Fernwartungen und hohem zeitlichem und finanziellem Aufwand gelöst werden mussten. Bis heute hakt es in vielen Praxen bei der TI, erst kürzlich gab es wieder eine große E-Rezept-Störung. 43 Prozent der Praxen berichten über wöchentliche Ausfälle, 15 Prozent sogar über tägliche Probleme (IGES-Befragung). Die Qualität der Umsetzung hängt dabei sehr stark von der jeweiligen Arztsoftware ab.

Wenn Patienten bei mir im Sprechzimmer sind, versende ich deren E-Rezepte sofort. Kommen sie für ein Folgerezept an den Tresen, legt die medizinische Fachangestellte das E-Rezept auf einen digitalen Stapel und ich signiere und versende die E-Rezepte zwischen den Behandlungen. Die nächste Apotheke ist so nah, dass manche Patienten dort ankommen, bevor ich ihre Rezepte freigeben konnte. Dann ist das Rezept erst mal nicht "auf der Karte". Vorteilhaft ist, dass Folgerezepte telefonisch bestellt und von uns ohne direkten Patientenkontakt als E-Rezept versendet werden können.

Bei mir dauert die Signatur eines E-Rezepts immer noch 14 Sekunden, damit länger als der Ausdruck eines Papierrezeptes. Hilfsmittel, frei verkäufliche Medikamente und Privatrezepte gehen in der Regel noch nicht als E-Rezept und auch Rezepte für Betäubungsmittel müssen vorerst weiter auf Papier ausgedruckt werden. Für Patienten von Altenheimen und ambulanten Pflegediensten faxen wir ausgedruckte E-Rezepte an Apotheken, weil eine direkte elektronische Zuweisung an die Apotheke in meiner Arztsoftware nicht möglich ist.

Wer im Besitz einer gĂĽltigen Versichertenkarte ist, kann diese in jeder Apotheke oder Arztpraxis einlesen und Rezepte bestellen oder sich Befunde des Kartenbesitzers ausdrucken lassen. Eine PIN-Eingabe ist nicht erforderlich. Hier sehe ich ein gewisses Missbrauchspotenzial.

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Karl Lauterbach drängt auf die Einführung der elektronischen Patientenakte "ePA für alle". IT-Spezialisten sprechen bei der ePA allerdings von "dunkelgrüner Schrumpelbananensoftware". Prof. Sylvia Thun – eine ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der Dokumentation – beschrieb die ePA als "komplizierte Dropbox für PDF-Dokumente". Der Bundesverband Gesundheits-IT (btvig) warnte vor einer überhasteten Einführung: Die Software sei nicht ausgereift und bisher nicht ausreichend getestet.

Trotzdem werden die gesetzlichen Krankenkassen ab Januar 2025 für ihre Versicherten eine ePA anlegen. Jedoch müssen Ärzte vorerst noch keine Daten einstellen. Die Verpflichtung wird verschoben, bis Tests in Modellregionen erfolgreich verlaufen. Mich hat übrigens bisher kaum ein Patient nach einer ePA gefragt.

Ferner wird das feingranulare Berechtigungsmanagement für Patienten vorerst nicht umgesetzt und das, obwohl der Kreis der Zugriffsberechtigten immer größer wird. Die Deutsche Aidshilfe hat kritisiert, dass in der ePA einzelne Diagnosen oder Medikamente nicht gelöscht werden können. TK-Chef Baas erwiderte, mit Beschlüssen solcher Interessengruppen käme man nicht weiter. Nachdem die ePA eine patientengeführte Akte sein soll, scheint eine solche Aussage paternalistisch – und dabei sprechen wir immer von "patient empowerment". Versicherte sollten ausnahmslos über jeden Zugriff auf ihre ePA aktiv informiert werden, um möglichen Missbrauch erkennen zu können. Beispielsweise gibt es auch bei ungewöhnlichen Login-Versuchen für Accounts bei Google und Co. E-Mail-Benachrichtigungen, warum nicht auch bei der ePA?

Eine unabhängige Zweitmeinung kann durch die ePA erschwert werden. Menschen mit psychischen Erkrankungen droht eine Stigmatisierung oder Ähnliches. Sollten die Daten in falsche Hände gelangen, hätte das gravierende Folgen für Betroffene.

Die ePA wird das Arzt-Patienten-Verhältnis grundlegend verändern und es ist zu befürchten, dass dies nicht immer zum Guten ist. Wenn Patienten den Zugriff auf ihre ePA künftig verweigern, ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kaum denkbar. Es scheint, als wollen Krankenkassen ihre Versicherten als Hilfssheriffs nutzen, die Abrechnungsbetrug von Ärzten in der ePA erkennen sollen.

Der Kreis der Zugriffsberechtigten auf die ePA ist groß und wird stetig erweitert. Neben Arzt-, Zahnarzt- und Psychotherapiepraxen und Kliniken, die nach dem Stecken der Gesundheitskarte automatisch 90 Tage Zugriff auf die Inhalte der ePA haben, bekommen Apotheken 3 Tage Einblick. Später werden ambulante Pflegedienste und Physiotherapeuten dazukommen.

Problematisch kann die ePA beispielsweise für Beschäftigte im Gesundheitswesen werden, die sich an ihrem Arbeitsplatz, zum Beispiel in einer großen radiologischen Praxis, untersuchen lassen. Wenn sie nicht wollen, dass Ärzte oder Mitarbeitende zum Beispiel von ihrer Depression erfahren sollen, müssen sie rechtzeitig daran denken, den Zugriff zur ePA zu sperren.

Ich erwarte bei der "ePA für alle" einen hohen Zeitaufwand für die verpflichtende Befüllung, die Sichtung der PDF-Dokumente, das Rechtemanagement und die Aufklärung der Patienten. Auch Haftungsfragen machen mir Sorgen: Was passiert, wenn ich einen wichtigen Befund in der ePA übersehe und daraus ein Behandlungsfehler resultiert? Wie reagiere ich bei einem Datenverlust?

Profitieren werden in jedem Fall die Notaufnahmen von Kliniken, die rund um die Uhr Zugriff auf die ePA haben werden. Damit stehen ihnen wichtige Informationen schneller zur Verfügung und sie müssen nicht mehr mühsam vom Hausarzt per Fax angefordert werden. Auch Klinikberichte könnten mir durch die ePA schneller vorliegen. Wenn der Patient den Entlassungsbericht vergessen hat, finde ich ihn in der ePA, sofern er bereits geschrieben und hochgeladen ist.

Wichtig ist vor allem, dass niedergelassene Ärzte und Kliniken über eine stabil funktionierende Technik und benutzerfreundliche Anwendungen mit höchsten Sicherheitsstandards verfügen. Vergessen werden darf jedoch nicht: Digitalisierung ist kein Selbstzweck und durch sie wird die Medizin nicht automatisch besser.

(mack)