"Der Faktencheck funktioniert so schlecht wie der Videoassistent im Fußball"
Professor Christian Schwarzenegger spricht im Interview über die vermeintliche Allmacht von sozialen Netzwerken und Deutungshoheit.
(Bild: Algi Febri Sugita/Shutterstock.com)
Christian Schwarzenegger ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bremen. Er untersucht dort den Medienwandel und die Öffentlichkeit, insbesonders wie diese sich in neuen und alternativen Öffentlichkeiten und Medien zeigt. Er leitet das Forschungsprojekt "Alternative Medien – Alternative Öffentlichkeiten – Alternative Realitäten?". heise online hat mit Schwarzenegger über die Wirkung sozialer Netzwerke gesprochen und ihm Fragen gestellt, welche Auswirkungen Mark Zuckerbergs Entscheidung haben kann, Faktenchecker in den USA abzulegen.
(Bild: Schwarzenegger)
Mark Zuckerberg schafft Faktenchecker in den USA ab. Was ist Ihnen da sofort in den Sinn gekommen, als Sie die Nachricht gehört haben?
Ich glaube, das kann man in einem größeren Kontext sehen. Viele amerikanische Unternehmen schaffen gerade auch ihre Diversity-Abteilungen ab. Das ist ein Zeitgeist, der sozusagen einer kalten Rechnung folgt, sowohl was gesellschaftliche Rendite betrifft, als auch finanzielle Faktoren. Das macht Aufwand, das macht Kosten. Fact-Checking hatte seine Chance und hat sich aus dieser Sicht nicht bewährt. Es kommt weg. Diversity-Kriterien hatten ihre Chance, aber auch denen entledigt man sich. Das ist eine mentale Haltung und ich glaube, das ist ein Zeitgeist. Trump kann man da auch als Folge sehen.
Man möchte wieder ein bisschen mehr Wilder Westen. Aber der funktioniert dann wahrscheinlich auch wieder nicht. Und dann gibt es wieder mehr Sheriffs. Eine Pendelbewegung.
Kann man das generalisieren oder bezieht sich das auf das Internet oder soziale Netzwerke?
Wir haben es nach der Pandemie erlebt, es gibt einen generellen Wunsch nach mehr Freiheit. Es gibt eine gefühlte, wahrgenommene Form von staatlicher Übergriffigkeit, die dazu führt, dass Menschen Regularien zurückdrängen wollen. Regeln raus. Endlich wieder dürfen. Das gilt auf allen Ebenen und auch nicht nur in den USA. Aber wir sehen das besonders stark in den USA und da kommen die großen Plattformen her.
Wir stehen diesen Plattformen sehr ambivalent gegenüber. Die meisten Menschen nutzen sie, nutzen sie gerne, und gleichzeitig verteufeln wir sie ständig und sehen in ihnen die Schuld für so viel Schlechtes auf der Welt. Wie viel Macht haben soziale Netzwerke überhaupt?
Das ist tatsächlich ein großes Thema und es ist spannend zu sehen, wie in kurzer Zeit, wenn man es in historischen Prozessdimensionen denkt, in eineinhalb Jahrzehnten, die Plattformen, die es gibt, unglaublich zentral für ganz viele Prozesse unseres Lebens geworden sind. Wir verhandeln diese Rolle, die sie haben noch. Wir können sagen, dass die Bedeutsamkeit von Plattformen stark damit zusammenhängt, dass es zugleich auch einen Bedeutungsverlust von anderen Medien gibt. Gerade junge Menschen haben oft nicht mehr diese traditionelle Medienbiografie. Sie sind nicht mit der Zeitung zu Hause aufgewachsen und haben nicht gelernt, diese Art von Journalismus nachzufragen.
Wenn du sagst, wir sehen die sozialen Medien auch als Verursacher, wenn was schiefläuft, dann muss man sagen, das ist zum Teil ein Abwehrdiskurs oder eine Abwehrhaltung der traditionellen Medien, die sich genau dafür immer stark gemacht haben. Wir haben Fact-Checking, wir haben objektive Berichterstattung, wir haben professionelle Kriterien. Wir sind die Lebensversicherung gegen alles, was Manipulation und Verschwörung ist, und die anderen sind voll davon.
Man hat über Fact-Checking durchaus versucht, Allianzen herzustellen. Wer hat eigentlich gesellschaftliche Deutungsmacht und wer kann entscheiden, wie wir bestimmte Debatten führen. Da treffen eine alte und neue Welt der Informationsumgebung aufeinander. Man sieht das ganz stark bei Elon Musk, wenn der jetzt seinen Leuten zuruft, you are the media now. Das ist Ausdruck einer größeren Bewegung.
Zur Frage, welche Macht Plattformen haben. Ich sehe in dem Zusammenhang immer einen Satz von Melvin Kranzberg – das ist ein Technikhistoriker. Sein First Law of Technology heißt, Medien oder Technologien sind weder gut noch böse, aber sie sind auch nicht neutral. Das heißt, man kann es immer für gute und negative Zwecke einsetzen, aber die Art, wie wir kommunizieren wird auch durch die Technik mitbestimmt. Das heißt beispielsweise, dass bestimmte Formate, schnelle, hastige Reaktionen bevorzugen, damit kriegen wir Sichtbarkeit und Reichweite. Also die Art, wie wir kommunizieren, wird durch die Plattformen gesteigert, beeinflusst und letztlich entscheiden die Plattformen auch durch Änderungen an Algorithmen, mit welcher Logik Inhalte überhaupt für jemanden sichtbar werden. Sie sitzen am Steuer.
Dann hat derjenige, der am Steuer sitzt, schon auch Macht?
Er entscheidet: Mehr AfD, mehr Populismus, mehr Rechtsextremismus, weniger Gender, weniger Diversity. Solange man sagt, es sitzen die Richtigen am Regler und es werden die richtigen Inhalte rausgefiltert und die Richtigen stark gemacht, sind wir damit eher zufrieden. Es ist aber etwas, das man immer mitdenken muss, dass letztlich die Logik dieselbe ist, nämlich dass gesteuert wird. Wir regen uns nur nicht immer im gleichen Maße darüber auf, weil wir manchmal zufrieden sind mit dem, was wir sehen.
Das heißt auch, die Teilhabe, von der wir alle mal ein bisschen geträumt haben, die das Internet bringen sollte, ist in Wahrheit ganz schön begrenzt?
Ich denke, das ist so die große Ernüchterung, die eingekehrt ist. Wir können uns zwar auf sozialen Plattformen alle äußern, aber das heißt nicht, dass wir auch gesehen werden. Darüber entscheiden weiterhin andere – Macht, Kapital und Interessen.
Nun lauten die Befürchtungen, wir könnten durch diese Filter und Inhalte in den sozialen Netzwerken manipuliert werden. Es gibt aber auch Sorgen vor Hass und Hetze. Was kann man tun?
Das ist ein wichtiger Punkt. Denn wir haben Gesetze. Aber: Bei diesen Gesetzen war es schon immer schwierig mit der Durchsetzung. Wir haben den Plattformbetreibern ein Stück weit die Entscheidung überlassen, was ein Inhalt ist, der gegen unsere Gesetze verstößt. Und da stellt sich die Frage, ob automatisierte Filtersysteme oder Faktenchecker ein ausreichend qualifiziertes Personal und ausreichende Maßnahmen sind. Man hat das zu einem gewissen Grad gemacht und auch machen müssen.
Die große Frage, die es zudem gibt, wenn es um Faktencheck geht, ist, was hilft das in einer Situation, in der Menschen gegenüber Institutionen das Vertrauen verloren haben? Wenn ich nicht mehr an Journalismus glaube, nicht mehr an den Staat, nicht an Wissenschaft glaube, dann kommt da jemand und sagt, das ist falsch, was die AfD sagt – das glaubt diese Person doch trotzdem nicht.
Also ist es eh egal, ob man Faktenchecks macht oder moderiert?
Solange es innerhalb der gesetzlichen Maßgaben bleibt, wobei im internationalen Vergleich die gesetzlichen Orientierungen unterschiedlich eng oder lose sind, solange es innerhalb des strafrechtlich Möglichen ist, muss man tatsächlich vieles aushalten. Auch, wenn man es ablehnt.
Die darauffolgende Frage ist aber, muss man bestimmte Inhalte, die polarisieren oder besonders heftige Reaktionen hervorrufen, dann auch noch durch die Logiken der Plattformen hervorheben. Dadurch werden negative Einlassungen verstärkt. Wenn man diese Beiträge nicht mit Sichtbarkeit belohnen würde, dann wäre es oft nur irgendein Mensch, der irgendein Zeugs redet. Und Menschen reden oft und überall irgendein Zeugs. Die Belohnung durch die Plattformen ist also eher das Problem.
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Das ist aus meiner Sicht ein großer Unterschied, ob man sagt, ich filtere es nicht raus, weil es ist ein Teil unserer Realität, dass es diese Meinungen gibt – das finde ich legitim. Die Verantwortung beginnt dort, wo es darum geht, amplifiziere ich das, verstärke ich das, mache ich meinen Profit auf dieser Basis.
Sind Fakten denn immer Fakten?
Gerade im politischen Kontext sind Fakten eigentlich nur der Anfang einer Debatte. Die Frage ist dann, was folgern wir daraus, was heißt es für unsere gesellschaftlichen Ziele, für unsere Werte und Orientierungen? Das heißt, das ist aus meiner Sicht eine falsche Logik oder Idee von Objektivität, zu sagen, wenn die Fakten erst mal geprüft sind, dann ist der Diskurs vorbei. Es ist ein bisschen wie der Videoassistent beim Fußball, da gibt es eine Entscheidung. Aber auch dort wissen wir, wie falsch die sein kann oder dass halt dann trotzdem Interpretationen abweichen können. Aber der Faktencheck funktioniert als Videobeweis für Öffentlichkeit genauso schlecht wie der VAR im Fußball.
In Australien dürfen Jugendliche unter 16 Jahren soziale Netzwerke nicht mehr benutzen. Ist das sinnvoll?
Das erinnert mich an diese Aufkleber auf CDs oder Schallplatten früher, Parental Advisory, Explicit Lyrics. Das hat die Sachen gerade interessant gemacht. Am Ende ist es aber natürlich dieses Narrativ, dass die Plattformen eine Art Allmacht haben, auch großartige Werbung. Damals, als bei Facebook der Cambridge Analytica Skandal war, das war zugleich die beste Bestätigung, schaut mal, wozu wir in der Lage sind.
Man muss auch sehen, was passiert, wenn die Leute 17 werden. Man kann natürlich immer sagen, unterschiedliche Entwicklungsstufen, können damit besser umgehen. Wir betrachten aber ja sonst auch, dass gerade in Radikalisierungskontexten, wo Menschen sich von der Demokratie lossagen und viel Unfug auf sozialen Medien glauben, dass das nicht die Jungen sind. Das sind alle Altersstufen. Ich sehe es als eine Symptombekämpfung, aber nicht wirklich einen Angriff auf die Wurzel der Probleme, die viel mit abseits der Medien stattfindenden gesellschaftlichen Faktoren zu tun haben. Beispielsweise mit der Auflösung von klaren biografischen Orientierungen, von kalkulierbaren Biografieverläufen. Es gibt viel Unsicherheit, es gibt, was wir epistemische Unsicherheit nennen. Das heißt, man kann so vieles wissen und glauben im Digitalen, dass man gar nicht mehr weiß, was man wissen und glauben kann. Und die traditionellen Institutionen, Kirche, Staat, auch Journalismus, verlieren an Glaubwürdigkeit. Zurückgelassen ist der Mensch, der sich irgendwo zurechtfinden muss.
Jetzt will Zuckerberg nach dem Vorbild von X die Community Notes einführen, was schlussendlich bedeutet, wir sollen uns gegenseitig melden und Inhalte kommentieren. Kann das nicht zu noch mehr Streit führen?
Es imitiert dieses positiv-partizipative Ideal, wir wissen gemeinsam mehr. Dass das alles auch instrumentell genutzt werden kann, um bestimmte Stimmen quasi mundtot zu machen, mit Lärm zu übertönen, dass die Community Notes teilweise eine Farce sind, was als Korrektur dann irgendwo steht oder nicht, ist dann ein anderes Problem.
Ich glaube, wenn es gut gemacht ist, wenn es eine diskursive Bereitschaft gibt, und es nicht nur Bestätigungskämpfe, koordinierte, polarisierende Auseinandersetzungen sind, kann das durchaus ein guter Weg sein. Es wird nur so nicht gemacht oder die Praxis ist eine andere. Dass ein Beitrag nicht einfach gelöscht wird oder man ihn melden kann und sich andere dann um den Inhalt kümmern müssen, sondern man sich argumentativ auseinandersetzen muss, ist eine charmante Idee. Dahinter verbirgt sich, dass man über unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen wieder mehr ins Gespräch kommt. Aber ob es so gehandhabt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Viele Leute wechseln zu Bluesky oder ins Fediverse und suchen Auswege …
Die Abgewanderten haben zunächst vielleicht zu ihrer Wohlfühl-Oase eines Abbilds von Twitter, wie sie es ideal gesehen haben, gefunden. Das wird vermutlich nicht immer so bleiben. Es wird auch dort zu Konflikten kommen. Und dann muss man schauen, wie sie darauf reagieren.
Ist die Idee der Teilhabe durch soziale Netzwerke dann gescheitert? Gibt es noch eine Öffentlichkeit in den sozialen Netzwerken?
Die Frage ist, wie sehr gab es sie überhaupt? Wir hatten mal die Illusion, dass wir so etwas vielleicht erreicht haben. Was Twitter im deutschsprachigen Raum betrifft, haben wir immer gewusst, das ist eine absolute Minderheit, die wirklich aktiv teilnimmt. Es waren aber sehr vokale Minderheiten, beziehungsweise Menschen, die Einfluss auf öffentliche Meinungsprozesse hatten. Sehr viele Verstärker von Meinungen. Facebook war vielleicht das Massensammelbecken, wo mal alle waren, aber man hat trotzdem sehr verschiedene Versionen wahrgenommen.
Auch als es nur die Tagesschau gab und jeder eine Zeitung gelesen hat, wurden die unterschiedlich wahrgenommen. Das heißt, es sind immer wieder Phasen, in denen wir merken oder daran erinnert werden, dass es gar nicht so einheitlich ist, wie wir manchmal denken. Oder dass das, wovon wir selbstverständlich ausgegangen sind, Mehrheitsmeinung oder die einzige Sichtweise, die man auf dem Phänomen überhaupt haben kann, dass das nicht mehr hält.
Das sind immer wieder Momente, in denen sich Konflikte entladen – wenn wir damit konfrontiert sind und uns das herausfordert, dass man alles ganz anders sehen kann, als man selbst sein Leben lebt und glaubt, dass Wirklichkeit funktioniert. Und das ist mitunter dann so eine Herausforderung und Überforderung, dass auch ein "Halt du doch die Fresse" vielleicht die angemessenste Reaktion ist, um mit dieser unerwarteten Überforderung umgehen zu können.
(emw)