Wenn der Staat die elektronische Patientenakte lesen will
Die E-Patientenakte ist im Gegensatz zur Gesundheitskarte nicht bei den Beschlagnahmeverboten im Gesetz aufgefĂĽhrt. Kann der Staat auf die ePA zugreifen?
(Bild: Shutterstock.com/Nan_Got)
Die ePA für alle ist da und mit ihr auch ein zentraler Ort für sensible Gesundheitsdaten, die Auskunft über den körperlichen, seelischen und geistigen Zustand des Patienten geben können. Nach dem Anschlag in Magdeburg sprach Carsten Linnemann (CDU) in einem Interview mit dem Deutschlandfunk davon, dass es "ein großes Defizit in Deutschland" sei, dass es keine "Raster" für psychisch kranke Gewalttäter geben würde. Neben Registern für Rechtsextreme und Islamisten bräuchte man auch ein Register für psychisch kranke Gewalttäter, forderte er.
Der frühere Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, warnt vor solchen Maßnahmen: "Die Möglichkeit eines polizeilichen Zugriffs auf die Daten von psychisch Kranken zwecks Schutzes vor Attentaten oder Amokläufen wäre ein gewaltiges Sicherheitsrisiko: Seelisch Kranke würden sich – aus Angst vor der Polizei – oft nicht mehr in die Behandlung begeben, mit der das Ausleben angestauter Aggression verhindert werden kann. Der Polizei fehlt die Expertise zu seelischen Krankheiten und auch das Wissen über die Hintergründe, um Anschläge zu verhindern. Geschwächt würde nicht nur das Vertrauen in Psychiater, sondern auch das Vertrauen in die Polizei."
"Psychisch erkrankte Menschen sind im Allgemeinen nicht gefährlicher als psychisch 'Gesunde'," betont Susanne Berwanger, Vizepräsidentin des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. gegenüber heise online. Register oder die Auflockerung der Schweigepflicht würden dazu führen, dass Erkrankte einer Behandlung "kritischer gegenüberstehen könnten". Damit würde sich nicht nur die Chance auf Hilfe für den erkrankten Menschen, sondern auch die Chance auf die Verhinderung einer potenziellen Tat durch eine angemessene Behandlung und Stabilisierung reduzieren.
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Forderungen, nach denen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf Patientenunterlagen bei Ärzten sowie Psychotherapeuten zugreifen dürfen, lehnt die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) entschieden ab, teilt ihr Pressesprecher auf Anfrage von heise online mit.
Schutz des Patienten vor der öffentlichen Gewalt
"Der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Patientinnen und Patienten zu den Angehörigen der Heilberufe gehört zu den elementaren Grund- und Menschenrechten," betont die BfDI. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so und hat in der Vergangenheit geurteilt: Angaben eines Arztes über Anamnese, Diagnose und therapeutische Maßnahmen und die Beurteilung des Gesundheitszustandes sind "höchstpersönliche Dinge" des Patienten und unterliegen dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Dieses Recht schützt den Patienten grundsätzlich "vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter" gegenüber dem Zugriff der öffentlichen Gewalt.
1972 brachte es der damalige Bundesjustizminister Gerhard Jahn im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 32, 373) auf den Punkt: "Das Zeugnisverweigerungsrecht des Arztes und das entsprechende Beschlagnahmeverbot dienten dem Interesse des Patienten am Schutz seiner Geheimsphäre und förderten dadurch die Bereitschaft des Einzelnen, sich ohne Furcht vor staatlicher Ausforschung in ärztliche Behandlung zu begeben".
Beschlagnahmeverbot für ärztliche Unterlagen
Ärzte unterliegen der Schweigepflicht und gehören zu den Berufsgeheimnisträgern. Dass ärztliche Unterlagen und Aufzeichnungen über Patienten nicht einfach beschlagnahmt werden können, wird in der Strafprozessordnung (StPO) in § 97 Beschlagnahmeverbote geregelt. Voraussetzung ist, dass sich zu beschlagnahmende Gegenstände "im Gewahrsam der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten" befinden.
Da sich die elektronische Gesundheitskarte nicht im Gewahrsam des Arztes, sondern im Gewahrsam des Patienten befindet, wurde der Paragraf mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) geändert. In der Begründung wurde angeführt (PDF), dass "sich Gesundheitsdaten in der Regel im Gewahrsam zeugnisverweigerungsberechtigter Ärzte" befinden und damit dem Beschlagnahmeschutz unterliegen. "Mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte werden Gesundheitsdaten in erheblichem Umfang auch in der Hand der Patienten sein. Die damit beabsichtigten Qualitätsverbesserungen im Gesundheitswesen dürfen nicht zu einer Verschlechterung der Rechtstellung der Patienten führen". Die Gesetzesänderung des § 97 StPO sollte den Schutz des Arzt-Patienten-Verhältnisses gewährleisten. Denn die Patienten "müssen darauf vertrauen können, dass die auf der Gesundheitskarte befindlichen Daten tatsächlich nur für den mit der Gesundheitskarte beabsichtigten Zweck, der Optimierung ihrer Behandlung, verwendet werden."
Elektronische Patientenakte nicht im Beschlagnahmeverbot
Was für die eGK schwarz auf weiß im Gesetz steht, gilt nicht für die ePA. Die taucht in § 97 StPO nicht auf, und auch sonst gibt es gibt bis heute keine ausdrückliche Regelung im Gesetz für den Schutz der ePA vor dem Zugriff von Strafverfolgungsbehörden.
Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses für das Gesetz zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz - PDSG) versuchte die Bundesärztekammer den § 97 StPO um die elektronische Patientenakte ergänzen zu lassen. Auch der damalige BfDI Ulrich Kelber befürwortete eine solch klarstellende Ergänzung des Gesetzestextes in seiner Stellungnahme (PDF). Der Vorschlag wurde jedoch nicht umgesetzt und der § 97 StPO blieb ohne ePA-Ergänzung.
Ob Polizei und Justiz Zugriffsmöglichkeiten auf die elektronische Patientenakte haben oder das Beschlagnahmeverbot nach 97 StPO greift, war für den damaligen BfDI im Jahr 2023 noch unklar. Im Jahr 2025 ist die neue BfDI davon überzeugt, dass es nach geltendem Recht ein "absolutes Beschlagnahmeverbot" für ärztliche Unterlagen gibt. Nach Ansicht der BfDI haben nicht nur "die Angehörigen der Gesundheitsberufe ein Zeugnisverweigerungsrecht und zudem eine strafrechtlich abgesicherte Schweigepflicht. Auch die Angestellten in den Praxen fallen darunter, ebenso IT-Dienstleister, die die elektronischen Praxissysteme betreuen".
Das Beschlagnahmeverbot setzt voraus, dass sich die geschĂĽtzten Unterlagen (mit Ausnahme der elektronischen Gesundheitskarte) im Gewahrsam des Zeugnisverweigerungsberechtigten (Arzt) befinden. Wenn nun aber die Krankenkasse und nicht der Arzt das Gewahrsam ĂĽber die ePA hat und der Krankenkasse selbst auch kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, was dann?
Rolle der Krankenkasse als aktenfĂĽhrende Stelle
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, dass es den Beschlagnahmeschutz auch für die elektronische Patientenakte gibt und sieht keinen Bedarf für eine gesonderte gesetzliche Regelung. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Edgar Franke führte dazu in einer Antwort auf eine Frage von Anke Domscheit-Berg von den Linken am 20. Februar 2023 aus:
"Nach geltendem Recht besteht ein Beschlagnahmeverbot, wenn sich die Daten bei der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt befinden und auch, wenn sich diese bei der aktenführenden Krankenkasse befinden. Die aktenführende Krankenkasse (§ 342 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – SGB V) sei im Rahmen der Führung der elektronischen Patientenakte eine "mitwirkende Person" nach § 53a Absatz 1 Satz 1 StPO und daher auch Zeugnisverweigerungsberechtigt. Außerdem würde das Beschlagnahmeverbot aus § 97 StGB nach § 11 Absatz 3 des Strafgesetzbuches (StGB) auch für Daten gelten, die von einem Zeugnisverweigungsberechtigten in die elektronische Patientenakte eingestellt werden".
Nach dieser Auffassung ist es also egal, ob Patientendaten analog in Karteikästen in der Praxis beim Arzt liegen oder elektronisch in einem von der Praxis getrennten Datenspeicher eines Dienstleisters. Die Frage, ob Krankenkassen als "mitwirkende Person" unter das Zeugnisverweigerungsrecht fallen, ist laut einem Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem März 2023 in der Fachwelt aber strittig.
Rolle des Patienten als Herr ĂĽber seine ePA
Der Patient sei Herr seiner Daten in der ePA, sagt das Bundesgesundheitsministerium. Es ist eine patientengeführte Akte. Und es ist gesetzliche Aufgabe der Krankenkassen, ihren Versicherten eine ePA zur Verfügung zu stellen. Der Arzt ist zwar verpflichtet, die ePA auf Wunsch des Patienten zu befüllen, die ePA ist aber nicht im Gewahrsam des Arztes – sie ist eine Zweitdokumentation und keine Primärdokumentation, die ein Arzt selbst verantwortlich führt. Ärzte sind nach §630 f BGB verpflichtet, ihre Patientenakte zu einer Behandlung in der Regel zehn Jahre lang aufzubewahren. Eine ePA, in der ein Patient als Herr über seine Gesundheitsdaten löschen kann, was er will, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
Die Krankenkassen seien in Bezug auf die ePA keine Dienstleister gegenĂĽber den Leistungserbringern im Gesundheitswesen, sondern Dienstleister gegenĂĽber den Versicherten, sagen Kritiker. Die Bereitstellung einer Infrastruktur fĂĽr die Datenspeicherung habe keinen inneren, unmittelbaren Zusammenhang mit dem jeweiligen Behandlungsgeschehen. Folgt man dieser Argumentation, sind Krankenkassen und von ihnen beauftragte Dienstleister auch keine mitwirkenden Personen der Leistungserbringer und haben somit kein Zeugnisverweigerungsrecht.
Welche Auswirkungen das Fehlen der ePA im Gesetzestext bei den Beschlagnahmeverboten hat, bleibt zunächst offen. Denn bisher liegen dazu noch keine höchstrichterlichen Entscheidungen vor.
Ärztliche Schweigepflicht gilt nicht absolut
"Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen sind verpflichtet, eine Ankündigung von Gewalt zu melden und zu verhindern" sagt Berwanger. Die ärztliche Schweigepflicht gilt nicht absolut. Wenn beispielsweise eine gegenwärtige Gefahr für die Gesundheit oder das Leben anderer Menschen besteht und die Gefahr durch das Offenbaren von schweigepflichtigen Informationen über den Patienten abgewendet werden könnte, liegt ein rechtfertigender Notstand vor. Ärzte können dann straflos gegen ihre Schweigepflicht verstoßen. Ärzte würden sich genauso wie andere Personen strafbar machen, wenn sie bestimmte geplante Straftaten nicht anzeigen, dazu gehören neben Tötungsdelikten unter anderem auch Straftaten gegen die persönliche Freiheit, Raub, Brandstiftung und andere gemeingefährliche Straftaten.
Versäumnisse der Behörden bei geltender Rechtslage
"Zur Abwehr von Gefahren haben die Behörden bereits eine breite Palette von Befugnissen. Bei psychisch erkrankten Gewalttätern oder bei einem entsprechenden Verdacht steht es den Ermittlungsbehörden frei, ein psychiatrisches Fachgutachten in Auftrag zu geben. Dieses unterliegt dann nicht dem geschützten Vertrauensverhältnis, weil es spezifisch von den Ermittlungsbehörden veranlasst wurde." teilt der Sprecher der BfDI mit. Personen können auch zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung zwangsweise in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden.
Ein Register für psychisch kranke Straftäter gibt es schon. Die Polizei kann unter bestimmten Voraussetzungen Personengebundene Hinweise (PHW) im Informationssystem Polizei (INPOL) zu Strafverfolgungs- und Präventionszwecken speichern. Ein solcher Hinweis auf eine "Psychische und Verhaltensstörung" kann nur gespeichert werden, "wenn ärztlich festgestellt ist, dass der Betroffene an einer psychischen Erkrankung leidet und daraus Gefahren für ihn selbst oder andere, insbesondere für Polizeibedienstete, resultieren können". Voraussetzung ist ein schriftliches ärztliches Attest oder Gutachten.
Der Täter von Magdeburg war verschiedenen Behörden in verschiedenen Bundesländern bereits vor dem Anschlag bekannt gewesen; der Spiegel berichtet aus einem vertraulichen Bericht des BKA, wonach 105 Vorgänge zu dem Täter aktenkundig gewesen waren. Er habe zwar "sehr viele Kontakte auch mit staatlichen Stellen" gehabt, "aber eben auch mit ganz vielen anderen Stellen und Personen im Clinch" gelegen, sagt Generalbundesanwalt Jens Rommel gegenüber den Justizreporter:innen des SWR.
"Die Chronologie ist erschreckend" stellt Sebastian Hartmann als Innenpolitischer Sprecher der SPD im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses fest und fasst zusammen, dass es eine "eine lange Serie über viele Jahre" war, "von Gefährdungen, Bedrohungen, öffentlichen Erklärungen, Twittereinträgen, strafrechtlichen Verurteilungen, die dann sogar darin gipfelten, dass Flüchtlingsstatus trotzdem zugeteilt wurde. Dass eine Zulassung als Arzt erfolgte. Dass in einer Klinik gearbeitet wurde."
Der Innenpolitische Sprecher der CDU, Alexander Thom, fordert, dass die Sicherheitsbehörden die ihnen vorliegenden Daten "besser austauschen, besser analysieren, damit wir unsere Bevölkerung besser schützen können". Sebastian Hartmann stellt klar, im Fall des Täters von Magdeburg "haben viele der jetzt schon bekannten Details ausgereicht, dass Behörden hätten härter vorgehen können".
(mack)