Prof. Christian Spannagel auf Twitch: Möglichst interaktiv Mathe vermitteln
Neue Lernformate werden auch auf der aktuellen Didacta diskutiert. Matheprofessor Christian Spannagel streamt indessen bereits erfolgreich auf Twitch.
(Bild: New Africa/Shutterstock.com)
Christian Spannagel ist Professor für Mathematik und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Informatik und Implementierung neuer Medien an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Regelmäßig streamt er seine Veranstaltungen auf Twitch, wo er eine zweite Öffentlichkeit für sein Fach aufgebaut hat. Was seine Motivation ist, was er von Gaming-Streams abschaut und wie der Spagat zwischen Präsenzveranstaltung und Online-Community gelingt, verrät er im Interview.
(Bild:Â Christian Spannagel)
MIT Technology Review: Ich bin durch einen Post auf Mastodon auf Sie aufmerksam geworden. Das war eine Ankündigung zu einer gleich beginnenden Vorlesung zur Mengenlehre, die Sie live auf Twitch gestreamt haben. Twitch kenne ich vorrangig fürs Gaming. Eine Mathe-Vorlesung auf Twitch fand ich ungewöhnlich. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre Vorlesungen zu streamen?
Christian Spannagel: Ich wollte meine Vorlesungen gern aus verschiedenen Gründen als Livestream anbieten. Zum einen wollte ich den Studierenden die hybride Teilnahme an meinen Lehrveranstaltungen ermöglichen. Und zum anderen habe ich seit Jahren einen relativ gut laufenden YouTube-Kanal für Mathematik, bei dem Menschen sich Youtube-Mathematik-Videos asynchron anschauen können. Aber dieser Youtube-Modus ist mir zu wenig interaktiv. Natürlich können die Leute unter dem Video kommentieren, aber eigentlich möchte ich mit den Leuten zusammen Mathematik entwickeln und deswegen versuche ich auch nicht nur meine eigenen Studierenden anzusprechen, sondern auch Leute von außen, außerhalb der Hochschule, die sich für Mathematik interessieren und gerne mit reinschnuppern und mitmachen würden.
Warum haben Sie sich fĂĽr Twitch entschieden? Auch ĂĽber Youtube kann man Livestreams einrichten.
Klar, aber ich habe überlegt, welche denn DIE Plattform fürs Streaming ist, der Prototyp sozusagen. Ich habe mich letztlich für Twitch entschieden, da dort aus meiner Sicht die Community-Funktionalitäten besser ausgebaut sind. Außerdem habe ich den Eindruck, dass auf einen Twitch-Stream auch mehr Leute aufmerksam werden, die einem nicht schon folgen. Auf Twitch ist man einfach in dieses Universum eingebunden und kann dort von dem Netzwerk profitieren, das dort bereits im Streaming-Bereich herrscht. Ich bin aber nicht der Erste, der das für die Hochschullehre macht. Es gibt auch Kollegen, wie Mathias Magdowski, der schon vor mir auf Twitch war und dort zum Thema Elektrotechnik streamt.
Hatten Sie vorher privat Erfahrungen mit Twitch?
Nein. Ich kannte Twitch nur vom Hörensagen und musste mich da echt einarbeiten. Ich habe mir also Gamer auf Twitch angesehen und festgestellt, dass sie oftmals begleitend zu ihren Streams eine Discord-Community haben. Das ermöglicht, in der Zeit zwischen den Streams eine Community weiter zu bedienen, am Leben zu erhalten und einen Austausch zu bieten. Da habe ich schon gedacht: Okay, das brauchst du auch. Diese Erkenntnis war total wertvoll. Ich habe also einen Discord-Server für Mathematik und Informatik eingerichtet – und der läuft super. Da sind mittlerweile über 1.400 Personen Mitglied, die sich täglich über Matheaufgaben austauschen, einander helfen, unterstützen.
"Die Streams und die Discord-Community ergänzen sich wunderbar"
Ăśber die Streams und die Discord-Community schaffen Sie im Prinzip eine zweite Ă–ffentlichkeit.
Genau. Und zwar eine, die mehr oder weniger synchron entsteht. Die Streams und die Discord-Community ergänzen sich da wunderbar. Die Youtube-Videos auf meinem Channel sind dagegen eine Sammlung an Videos, die man sich mal im Nachhinein ansehen kann, wenn man etwas Spezielles sucht.
Bei den gestreamten Vorlesungen: Können Sie da beiden Teilnehmer-Gruppen gerecht werden, denen live vor Ort und denen, die virtuell zuschauen?
In der Präsenzveranstaltung liegt der Fokus natürlich auf den Teilnehmern, die vor Ort sind. Ich versuche aber auch, die Online-Teilnehmer einzubinden. Ich schaue immer wieder regelmäßig in den Chat hinein, ob es da Fragen gibt. Mitunter beantworten sich Teilnehmer im Chat auch selbst die Fragen. Mitunter greife ich etwas aus dem Chat auf und bringe es in den Hörsaal hinein, sodass auch die Studierenden vor Ort antworten können und dadurch ein Austausch entsteht.
Wie schaffen Sie den Spagat zwischen Vorlesung halten und den Chat im Blick haben?
Ich kann den Chat nicht durchgehend im Blick behalten. Es geht nicht in der Situation. Ich habe aber zwei studentische Mitarbeiterinnen, die zugeschaltet sind, eine macht dort Moderation, eine andere betreut aus inhaltlicher Sicht. Sie kennt die Lehrveranstaltungsinhalte, beantwortet Fragen oder sammelt Fragen und fasst sie fĂĽr mich zusammen und schreibt sie in den Chat.
Videos by heise
Eine Veranstaltung, zwei Ă–ffentlichkeiten
Streamen Sie jede Ihrer Vorlesungen?
Nein, nicht jede meiner Veranstaltungen, sondern nur solche, bei denen die Streams auch einen Mehrwert für externe Personen bieten, etwa meine Inverted-Classroom-Veranstaltungen. In diesen Veranstaltungen bereiten sich die Studierenden im Vorfeld mit entsprechenden Aufgaben und Materialien auf die Präsenzveranstaltung vor. Im Hörsaal versuchen wir dann gemeinsam, neue Aufgaben zu bearbeiten, und zwar sowohl in Kleingruppen als auch in der Gesamtgruppe. Und gerade dieser Wechsel zwischen Gruppenarbeit und Frontalphase kann gut mithilfe von Discord und Twitch umgesetzt werden: Die Online-Teilnehmer können sich zum Beispiel zur Gruppenarbeit in Discord Channels treffen und sich anschließend an der gemeinsamen Besprechung der Ergebnisse im Twitch-Stream beteiligen.
Was erhoffen Sie sich davon, Ihren Unterricht einer breiteren Ă–ffentlichkeit zur VerfĂĽgung zu stellen?
Das ist sozusagen ein Akt der Wissenschaftskommunikation. Durch die vielen Kommentare auf YouTube, die ich ĂĽber die Jahre hinweg bekommen habe, habe ich mittlerweile ein GefĂĽhl dafĂĽr, wer sich da drauĂźen in der Gesellschaft fĂĽr Mathematik interessiert. Das sind viele Menschen, die oftmals in der Schule schlechte Erfahrung mit Mathematik gemacht haben, die es aber trotzdem spannend finden. Andere haben auch richtig Matheangst, oder sie denken, dass ihr Gehirn nicht fĂĽr Mathematik gemacht ist. Aber das stimmt natĂĽrlich nicht, und das ist total schade!
Ferner haben Menschen auch ein etwas eingeschränktes Bild von Mathematik, das sie vielleicht aus der Schule mitgenommen haben. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass das Bild von Mathematik in der Gesellschaft besser wird. Das heißt zum einen, dass Menschen ein Verständnis von Mathematik als Wissenschaft von Mustern und Strukturen entwickeln, aber auch ein adäquates Bild von sich selbst gegenüber Mathematik aufbauen, indem sie feststellen: Ich bin doch gar nicht so schlecht in Mathe, ich verstehe es doch.
"Hier herrscht eine positive Haltung zu innovativen didaktischen Konzepten"
Wie reagieren denn Ihre Kolleginnen und Kollegen auf Ihre Stream-Arbeit? Fragen sie Sie um Rat, weil sie das fĂĽr ihre Veranstaltungen auch so aufziehen wollen? Oder gibt es auch kritische Stimmen?
Weder noch. Es gibt ein positives Interesse an dem, was ich so mache. Es kommt aber oftmals nicht dazu, dass sie es auch gerne umsetzen würden, sie haben oft andere Arbeitsschwerpunkte. Aber Kritik im Sinne von "Was machst du da für einen Quatsch?" gibt es nicht. An der Pädagogischen Hochschule, wo ich bin, ist das vielleicht auch noch ein anderes Setting als an einer Universität. Hier bei uns ist die Mathematikdidaktik, weniger die Mathematik im Fokus. Daher herrscht hier eine grundsätzlich positive Haltung zu innovativen didaktischen und methodischen Konzepten, auch gegenüber Wissenschaftskommunikation-Aktivitäten.
Dieser Beitrag ist zuerst bei t3n.de erschienen.
(vza)