Platz schaffen für das Pflichtfach Informatik – was muss raus?

Welches Fach für das Pflichtfach Informatik weichen könnte und wie die Hochschulen angehende Informatik-Lehrkräfte ausbilden, erklärt Christian Spannagel.

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Eine Grundschülerin mit einer Brille sitzt mit anderen Kindern in einem Klassenzimmer und liest etwas auf einem Laptop.

Sollen Kinder in der Schule künftig lieber Informatik pauken statt Latein oder Französisch?

(Bild: Drazen Zigic/ Shutterstock.com)

Lesezeit: 12 Min.

Durch die anhaltend schlechten Ergebnisse bei den Pisa-Erhebungen wird seit einigen Wochen wieder deutlicher hinterfragt, welche Fächer und welche Formen des Lehrens und Lernens in deutschen Schulen eher gestärkt werden sollten und welche man ad acta legen könnte. Es wird diskutiert, welche Kompetenzen heute in den Schulen vermittelt werden müssen und wie das genau gemacht werden sollte. In Bayern will man beispielsweise mit mehr Deutsch- und Matheunterricht in der Grundschule die Vermittlung von Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen stärken. Zuletzt wurde die Streichung des Englischunterrichts ins Gespräch gebracht, damit hierfür Stunden frei werden. An den Religionsunterricht will man in Bayern nicht die Axt anlegen.

Was in deutsche Lehrpläne gehört und was nicht, wird auch immer wieder im Zusammenhang mit dem seit 2022 auch von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) gewünschten Pflichtfach Informatik diskutiert. Nach der Ankündigung von Bremen in diesem Januar wird es nun eigentlich in allen Bundesländern auf lange Sicht zumindest in der Sekundarstufe I eingeführt. Damit werden auch Verteilungsfragen konkreter. Wie die Gesellschaft für Informatik im Herbst 2023 festhielt, kann "eine Aufstockung der Gesamtstundenzahl nicht die einzige Lösung sein". Eine Überbelastung der Schülerinnen und Schüler sei zu vermeiden.

Was aus den bisherigen Stundenplänen gestrichen werden könnte, erläuterte zuletzt Informatik-Professor und Bildungs-Influencer Christian Spannagel in einem Podcast. Heise online befragte ihn daraufhin, warum das Fach Informatik sowohl in Grundschulen als auch in der Sekundarstufe I einen festen Platz erhalten sollte und wie es mittlerweile bei der Lehrkräfteausbildung für das Fach Informatik aussieht. Das Interview wurde mittels Sprachnachrichten geführt, WhisperAI half bei der Transkription, außerdem ist Christian Spannagel #gerneperDu.

Prof. Dr. Christian Spannagel

Prof. Dr. Christian Spannagel ist Professor für Mathematik und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Informatik und Implementierung neuer Medien. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist gemäß seinem eigenen Lehrschwerpunkt aktiv in diversen sozialen Netzwerken und hat einen eigenen Youtube-Kanal. Auch dort vermittelt er sein mathematisches und informatisches Wissen.

Du hast im SWR-Podcast "Die Schule brennt" unter anderem dafür geworben, dass der Fremdsprachenunterricht zugunsten von anderen Fächern reduziert werden könnte, etwa durch das Streichen der zweiten Pflichtfremdsprache – in diesem Fall meintest du, dass dies zugunsten von Informatik passieren sollte. In einem aktuellen Zeitinterview sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, der verantwortlich für die Pisa-Studien ist, dass in Deutschland zu wenig fächerübergreifender oder projektorientierter Unterricht durchgeführt wird.

Provozierend gefragt: Muss Informatik tatsächlich als einzelnes Fach im Lehrplan stehen oder sollte aufgrund der Pisa-Studien eher umgedacht werden und strenge Fächergrenzen sind das Problem? Und wenn Fächergrenzen aus deiner Sicht bestehen bleiben sollten: Warum sollte nun bei Pflichtfremdsprachen gekürzt werden?

Man muss beim Begriff "fächerübergreifenden Unterricht" zunächst mindestens zwei Modelle unterscheiden: In einem Modell hat man ein neues Unterrichtsfach, in dem mehrere klassische Fächer integriert werden. Beispielsweise als MINT-Unterricht, wo Naturwissenschaften und Technik und Informatik zusammengeführt sind. In einem anderen Modell bestehen die Fächer wie Mathematik, Informatik und Physik weiterhin getrennt fort, arbeiten aber in speziellen Situationen zusammen. Beides wird oftmals unter dem Begriff "fächerübergreifender Unterricht" verstanden.

Ich sehe ein Problem in Modell 1, wenn mehrere Fächer zusammen in einem Fach unterrichtet werden. Lehrkräfte müssen dann Multi-Experten sein. Wer ein MINT-Fach unterrichtet, muss sich dann auch in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik gut auskennen, und zwar fachlich fundiert. Lehrkräfte müssen in diesem integrierten Fach dann zum Teil fachfremd unterrichten, und das kann eine erhebliche Überforderung sein.

Aus meiner Sicht kann deshalb nur Modell 2 die Lösung sein: Wir haben Fachexpert:innen in der Schule, die vor dem Hintergrund fundierten Fachwissens auch entsprechende Fächer in der Schule unterrichten. Deswegen brauchen wir auch das für sich stehende Fach Informatik, weil wir studierte Informatiklehrkräfte benötigen, die das Fach Informatik studiert haben, um dann fundiert informatische Kompetenzen bei den SchülerInnen vermitteln zu können.

Das schließt fächerübergreifende Unterrichtseinheiten nach Modell 2 aber natürlich überhaupt nicht aus. Schülerinnen und Schüler könnten in diesem Rahmen eine Problemstellung - etwa zu Themenbereichen wie Energie oder Nachhaltigkeit - aus verschiedenen Fächerperspektiven bearbeiten – und dafür brauchen sie gut ausgebildete Lehrkräfte in den jeweiligen Fächern, welche die jeweilige Fachperspektive vertreten können. Modell 2 würdigt die Tatsache, dass Interdisziplinarität die Disziplinarität voraussetzt.

Zu der Frage mit dem Pflichtfremdsprachenunterricht: Ich gehe davon aus, dass KI in Zukunft so gut sein wird, dass dies für die Alltagskommunikation mit Menschen, die andere Sprachen sprechen, und für den Konsum von fremdsprachlichen Medien reichen wird, wir also einen Universalübersetzer – so etwas wie einen Babelfisch im Ohr – haben werden. Dementsprechend glaube ich, dass wir in der Zukunft nicht mehr so viel Fremdsprachenkompetenz benötigen und in dem Bereich kürzen können. Gegenüber anderen Fächern nimmt der Pflichtfremdsprachenunterricht einen sehr großen Raum im Curriculum ein.

Für die Grundschulen wurde der Streit über Lehrinhalte durch Pisa auch wieder angefacht. Die Vermittlung der Kernkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechen soll wieder mehr in den Fokus rücken, auch mit womöglich mehr Unterrichtsstunden, wie es etwa Bayern plant. Sollte die informatische Bildung dort trotzdem einen festen Platz finden? Wie wichtig findest du informatische Bildung in der Grundschule?

Es ist total wichtig, auch Informatikthemen in die Grundschule zu bringen, weil wir ein großes Gender-Gap in der Informatik haben. Informatik wird in Deutschland oft als männliches Fach wahrgenommen und je früher man anfängt, alle Kinder anzusprechen, umso eher kann man diesem Gender-Gap entgegenwirken.

In der Grundschule gibt es kein eigenes Fach Informatik, so wie es dort auch kein eigenes Fach Physik, Chemie oder Biologie gibt. Dort gibt es tatsächlich ein entsprechendes Fach, das einige Themen in sich vereint: den Sachunterricht. Und in den könnte man natürlich auch informatische Themen integrieren und dementsprechend müssten auch Lehramtsstudierende des Primarstufenlehramts die Möglichkeit haben, Sachunterricht als Fach mit Informatikthemen zu studieren. Das gibt es in Baden-Württemberg allerdings noch nicht.

Die Forderung für die Sekundarstufe I ist aber ganz klar: Es muss ein eigenes Fach Informatik geben. Ich bin überzeugt: Wenn wir heute das Schulcurriculum neu erfinden würden, dann würde es neben den Fächern Physik, Biologie, Chemie und Mathematik auch das Fach Informatik geben. Nur weil die Informatik eine relativ neue Disziplin ist, hat sie das Problem, sich gegen die Pfründe der bestehenden Fächer durchzusetzen.

Wie kommen im Informatik-Studium informatisches Wissen und Didaktik zusammen, einmal in Bezug auf Grundschulen oder auch in Bezug auf die Sekundarstufe I?

Lehrende für Informatik brauchen auf jeden Fall sowohl fachwissenschaftliche als auch fachdidaktische Kompetenzen. In Heidelberg führen wir gerade das Fach Informatik im Lehramt für die Sekundarstufe I ein. Das startet im Sommersemester 2024.

Dort werden zum Beispiel die Grundlagen der Programmierung und des Software-Engineerings behandelt, theoretische Informatik, technische Informatik und auch fachdidaktische Grundlagen. Beispielsweise lehren wir hier die Didaktik der Roboterprogrammierung.

Das Studium ist sehr anwendungsorientiert. Das heißt, man wird immer versuchen, die abstrakten Inhalte der Informatik auch ganz konkret an praktischen Anwendungen zu thematisieren und erfahrbar zu machen – so wie man das auch im Unterricht machen würde.

In der Informatik kommt es ohnehin nur selten vor, dass losgelöst von Aufgabenstellungen aus der realen Welt gearbeitet wird. Das heißt, im Fach Informatik spielen natürlich immer auch irgendwelche anderen Lebensbereiche eine Rolle, etwa Gegenstandsbereiche, zu denen Algorithmen entwickelt werden und Programme geschrieben werden sollen. Die fachlichen Inhalte werden in der Regel sehr anschaulich und praktisch vermittelt.

Es überrascht etwas, zu hören, dass es in Heidelberg erst jetzt das Angebot für angehende Lehrkräfte gibt, Informatik für die Sekundarstufe I zu lernen. War die Nachfrage bisher nicht groß genug oder musste erst genauer festgelegt werden, was Lehr- und Prüfungsinhalte sein werden?

Die Frage ist wichtig: Warum jetzt erst? Früher hatten wir bereits einmal das Fach Informatik in den alten Staatsexamen-Studiengängen des Lehramts. Es hatte aber keinen so großen Umfang, da Lehramts-Studierende damals noch drei Fächer studieren mussten, also zum Beispiel: Mathe, Physik und Informatik. Zu dem Zeitpunkt gab es das Fach Informatik aber nicht in der Schule in der Sekundarstufe I. Ich vermute, dass es deshalb als drittes Fach geduldet wurde. Mit dem Wechsel zum Bachelor- und Master-System gab es dann aber einen Schnitt. Das hat uns das Zwei-Fach-Studium gebracht. Die Studierenden mussten jetzt nur noch zwei Fächer studieren – und dadurch wurde das Fach Informatik im Sekundarstufenlehramt in Baden-Württemberg zunächst abgeschafft.

Ich vermute, dass man nicht wollte, dass zwei Fächer studiert werden, es eines davon aber nicht in den Schulen gibt. Mein Argument war schon damals: dann führt doch bitte das Fach Informatik endlich in der Schule ein. Dafür wurde man aber nur müde belächelt. Kurze Zeit später entschied man sich dann aber doch dazu, dass es das Fach Informatik in den Schulen geben müsse.

Das klingt nach einem ziemlichen Hin und Her. Ist das symptomatisch für den deutschen Umgang mit dem Fach Informatik in Schulen?

Dieses Hin und Her hat auch bei uns dazu geführt, dass erst einmal die Luft raus war. Außerdem fehlte die notwendige Ausstattung. Wir standen vor der Situation: "Okay, jetzt dürfen wir endlich das Fach Informatik im Sekundarstufen-I-Lehramt einrichten" – aber wir hatten zu wenig Personal. Das hieß konkret: Es gab mich mit einer halben Professur für Informatik und 1,5 akademische Mitarbeiter. Das war einfach zu wenig – vor allem, da im Bachelor und Master das Fach sehr viel umfassender gelehrt werden muss als in den alten Staatsexamensstudiengängen. Dann kam aber eine überraschende Wende: Die Carl-Zeiss-Stiftung hatte Stiftungsprofessuren ausgeschrieben für Informatik-Didaktik. Wir bewarben uns und bekamen einen Zuschlag. Seitdem ist Claudia Hildebrandt als Professorin für Informatik und ihre Didaktik mit zwei weiteren Mitarbeitern bei uns an der Hochschule. Jetzt haben wir die Personalpower, das Fach Informatik in Lehramtsstudiengängen für Sekundarstufe I und für Sonderpädagogik anzubieten.

Wir beginnen jetzt damit, richtig vollwertige Informatiklehrer:innen auszubilden, für ein Fach, das in der Schule noch stark ausbaufähig ist. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) fordert das Fach mit einem schrittweisen Ausbau zunächst auf vier, dann auf sechs Stunden in der Sekundarstufe I.

Insgesamt haben wir allerdings ein Henne-Ei-Problem: Kaum jemand will ein Fach studieren, das es nicht vollwertig in der Schule gibt. Und in der Schule kann man das Fach erst einführen, wenn man ausreichend Informatiklehrer:innen hat. Das ist ein politisches Problem, das jetzt dringend gelöst werden muss.

Ihr müsst die Lehre im Fach Informatik nun richtig aufbauen – wie macht ihr das?

Als wir die Einführung des Fachs Informatik geplant haben, haben Claudia Hildebrandt und ich uns hingesetzt und das Fach in den Grenzen, die die Rahmenverordnung des Landes Baden-Württemberg setzt, konzipiert. Das heißt, wir hatten schon Vorgaben, wir konnten nicht komplett frei entscheiden. Aber wir haben diese Vorgaben ausgestaltet und haben daraus ein Modulhandbuch gestrickt.

Da wir die Lücke zwischen Abschaffung des Staatsexamens und der Neueinführung des Fachs im Bachelor und Master davor auch nicht einfach hinnehmen wollten, hatten wir ein besonderes Erweiterungsfach "Informatische Bildung in der Schule" eingerichtet, welches alle Studierenden aller Lehramtsstudiengänge studieren können. Diese Zusatzqualifikation brachte den Studierenden zwar nicht die Lehrbefugnis im Fach Informatik, aber wir konnten so informatische Kompetenzen in der Breite in der Lehrerschaft streuen. Dieses Erweiterungsfach wird auch weiterhin bestehen bleiben.

Man merkt, dass du für das Fach wirklich brennst. Welche Kompetenz vermittelt Informatik aus deiner Sicht am stärksten?

Die zentralen Inhaltskonzepte in der Informatik sind Konzepte wie Algorithmus, Programm, System, Prozess, Daten und Information. Ein Verständnis dieser Konzepte ist wichtig in einer von Digitalisierung geprägten Gesellschaft. Wenn man möchte, dass sich die Menschen in unserer Gesellschaft mit Konzepten wie Algorithmus, Information, Daten und so weiter auskennen und in diesem Zusammenhang auch entsprechende Kompetenzen entwickeln, dann sollten sie Informatikunterricht haben, weil das der Unterricht ist, in dem diese Konzepte und Kompetenzen fachgerecht und sachgerecht vermittelt werden können.

(kbe)