Statt geschlossener Supermärkte: Norweger starten Fernbedienung per Kamera
In Norwegen fehlen Arbeitskräfte, was das Ende kleiner Supermärkte bedeuten könnte. Doch mit Digitaltechnik geht es weiter – sogar mit langen Öffnungszeiten.
"Joker"-Laden in Westnorwegen: Ja, er hat wirklich bis 1 Uhr nachts geöffnet.
(Bild: Ben Schwan)
Als ich das Schild mit den Ladenöffnungszeiten zum ersten Mal sehe, halte ich es für einen schlechten Scherz. 6 bis 1 Uhr steht darauf und ich halte das "1" zunächst für 13 Uhr. Aber nein: Hier ist wirklich 1 Uhr nachts gemeint. Auf einer kleinen Insel an der norwegischen Westküste, mit vielleicht etwas mehr als 1100 Einwohnern. Die Lösung dieses Rätsels ist Technologie: Es handelt sich nicht um irgendeinen kleinen Dorfsupermarkt, sondern um eine "delvis fjernbetjente butikk", einen teilweise fernbedienten Laden. "Willkommen zur Hochtechnologie der Zukunft", heißt es stolz auf einem großen Bildschirm. Und der kleine "Joker"-Laden selbst ist vollgestopft mit Kameras, sieht aber sonst noch normal und meiner Ansicht nach sogar besser bestückt aus, als ich ihn in Erinnerung hatte.
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Norwegen geht damit ein in den letzten Jahren um sich greifendes Problem an: das Sterben örtlicher Geschäfte mit Alltagsprodukten, was die Versorgungssituation in dem dünn besiedelten Land enorm verschlechtert. Die ersten Läden mit Fernbedienung wurden 2022 aus der Taufe gehoben. Seither verlief der Ausbau rasant: Inzwischen gibt es rund 40 Läden im ganzen Land mit der Technik, die meisten umgebaut aus bestehenden Supermärkten. Joker gehört zur Kjøpmannshuset Norge AS, die auch "Spar"-Läden in Norwegen sowie die noch kleineren Läden der Kette "Nærbutikken" betreibt. Letztere starben in den vergangenen Jahren wie die Fliegen, sodass ganze Dorfgemeinschaften versuchten, die Läden einfach selbst weiterzuführen. Doch erst jetzt, mit der neuen Technik, scheint es zu klappen. Kjøpmannshuset Norge AS, das im Konzernbesitz des Lebensmittelhandelsriesen NorgesGruppen ist, konnte zuletzt sogar ein negatives Ergebnis in ein positives drehen – auch wegen des neuen Konzepts.
Viele wollen einkaufen, keiner bedienen
Viele der Läden haben nur einen oder zwei Mitarbeiter, die nicht nur die Kasse besetzen, sondern auch für das Annehmen der Waren und das Einräumen verantwortlich sind. Der Job kann anstrengend und stressig sein und es gibt viel bessere und höher entlohnte Jobs in Norwegen, weshalb sich immer weniger Menschen finden, die Läden zu betreiben. Gleichzeitig sind die Kunden genervt, weil die Öffnungszeiten immer bescheidener wurden. Oft öffneten die Läden spät, manchmal erst um 12 Uhr mittags, und schlossen früh, etwa um 18 Uhr. So musste man sich beeilen, um noch etwas kaufen zu können – schlecht, weil man auf dem norwegischen Land sowieso große Strecken teilweise mit der Fähre zurücklegt, die aufgrund der Witterungsverhältnisse bei Sturm oder Schnee nicht einfach zu bewältigen sind.
(Bild:Â Ben Schwan)
Die Ladengeschäfte mit Fernbedienung sind vergleichsweise einfach zu etablieren. Denn es braucht keine komplexen Systeme, bei denen Kameras und Algorithmen des maschinellen Lernens erfassen, was man aus dem Regal nimmt, wie man es etwa vom Amazon Go kennt, das wohl auch deshalb noch immer nicht weitläufig eingeführt wurde. Stattdessen dienen die Kameras bei Joker vor allem der Sicherheit. Sie sind dennoch auf fast jedes Regal gerichtet, egal ob man nun Käse kauft, Orangensaft oder Obst. Um außerhalb der Besetzungszeiten – die es nach wie vor gibt – in den Laden zu kommen, scannt man am Eingang sein Handy oder nutzt eine Kredit- oder Debitkarte mit NFC und/oder PIN. Dann kauft man wie gewohnt ein und begibt sich zum Schluss an eines jener Self-Checkout-Terminals, wie man sie auch aus vielen deutschen Supermärkten kennt, die Kassenpersonal einsparen wollen. Dort scannt man alle Artikel und packt ein. Zum Schluss erhält man nach der Bezahlung entweder eine Rechnung mit Barcode oder nur einen Barcode als Ausdruck. Letzterer ist wichtig, denn diesen benötigt man, um wieder aus dem Laden zu gelangen: Am Ausgang wird der Code als "Einkaufsbeweis" gescannt, damit sich die Türen öffnen. Gibt es Probleme beim Shopping oder man hat Fragen, kann man jederzeit eine Zentrale im Laden erreichen. Auch ein versehentliches Einsperren soll so vermieden werden.
Daten werden gespeichert
Ein bisschen Vertrauen ist bei dem Konzept natürlich dabei: Gauner könnten auf die Idee kommen, mit falschen Karten in den Laden zu gehen, falsche Dinge abzurechnen und mit der Beute den Laden wieder zu verlassen. Dafür sind wiederum die Kameras da, deren Feeds in einem Sicherheitsbüro zusammenlaufen. Joker selbst betont, die Geschäfte, die von lokalen Kaufleuten geführt werden, hätten ein "berechtigtes Interesse daran, den Kunden ein sicheres Einkaufen zu ermöglichen, ihr Vermögen zu schützen und die gesetzlichen Vorschriften, z. B. für den Verkauf von Waren mit Altersbeschränkung, zu erfüllen". Die Kredit- oder Debit-Karte wird am Eingang mit einer norwegischen Krone belastet, um sicherzustellen, dass sie auch funktioniert (es folgt später eine Rückbuchung).
(Bild:Â Ben Schwan)
Gespeichert werden auch Teile der Kartennummer, um später überprüfen zu können, wer das Geschäft betreten hat, "z. B. im Falle eines vermuteten Verstoßes gegen die Bedingungen für die Nutzung des Geschäfts", so die Handelskette. Joker speichert diese Daten drei Monate, also 90 Tage lang. Wird eine kriminelle Person erwischt, wird ihre Karte gesperrt, sodass diese keinen Zugang mehr zum Geschäft hat. "Die Informationen über die Sperrung werden gelöscht, wenn der Fall abgeschlossen ist, spätestens jedoch innerhalb eines Jahres." Produkte mit Altersbeschränkung wie etwa Bier – hochprozentigen Wein, Whiskey oder Schnaps gibt es in Norwegen in eigenen Geschäften – muss man sich extra freigeben lassen: Man kontaktiert dazu den Kundendienst, während man im Laden ist, per Sprache und Kamera. Alternativ gibt es auch die Möglichkeit, einmalig einen Token zu hinterlegen, der auf dem Fingerabdruck des Nutzers basiert, aber nicht mehr in diesen zurückgerechnet werden kann. Später darf man dann sein Alter beim Self-Checkout ohne menschliche Hilfe verifizieren.
Shopping auf dem Dorf 24 Stunden lang
Alles in allem scheint das Konzept gut zu funktionieren. Manche der Läden mit Fernbedienung sind mittlerweile 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr geöffnet – selbst in kleinsten Orten, was diese so bislang nie kannten. Das geht kontraintuitiv allerdings nur, wenn das Geschäft nicht zu groß ist: Das norwegische Ladenöffnungsgesetz erlaubt eine Sonntagsöffnung nämlich nur dann, wenn die Gesamtverkaufsfläche eine bestimmte Größe nicht überschreitet. So haben größere Supermärkte abgetrennte Bereiche nur für den Sonntag – will man etwas aus dem restlichen Geschäft haben, muss ein Mitarbeiter ran und es holen. Ein Betrieb einer solchen Doppelstruktur würde sich bei den kleinen Joker-Filialen aber nicht lohnen, weshalb nur solche Läden rund um die Uhr geöffnet haben, deren Verkaufsfläche ohnehin klein genug für die Sonntagsöffnung ist. Zudem gibt es Zonen in Norwegen, die als Touristenorte ausgezeichnet sind. Diesen ist dann möglich, auch mit größerer Betriebsfläche an Sonn- und Feiertagen zu öffnen. Mitarbeiter kommen zu bestimmten Kernzeiten, um sich um die Bestückung zu kümmern, Postdienstleistungen anzubieten, Menschen ohne Lust auf Self-Checkout abzukassieren oder auch mal einen Plausch zu halten.
Die Kunden jedenfalls freuen sich darüber: Sie bekommen eine Infrastruktur, wie sie sie sonst nur aus Großstädten kennen, plötzlich an abgelegenen Orten. "Die Kunden müssen nun nicht mehr zum Laden eilen, um sicherzustellen, dass sie innerhalb der Öffnungszeiten einkaufen können. Die Menschen können wählen, ob sie vor oder nach der Arbeit, auf dem Weg zum oder vom Fußballtraining, vor oder nach dem Skifahren einkaufen wollen. Und Urlauber können mit der Gewissheit von ihrer Ferienhütte losfahren, dass sie es noch vor Ende des Ladenschlusses bis zum Laden schaffen", beschreibt Joker den Traum hinter dem Konzept. Die Ladenkette hat die Umstellung sogar mit einer Erweiterung ihres Angebots kombiniert: In dem Laden auf der Insel in Westnorwegen gibt es jetzt mehr Produkte als zuvor, da die Räumlichkeiten besser ausgenutzt werden, also beispielsweise auch Aufenthaltsräume für die Mitarbeiter reduziert und Kassenflächen verkleinert werden konnten. Einzig gewöhnen muss man sich an die vielen Kameras. Die sind am Anfang etwas spooky – und könnten Datenschützer auf den Plan rufen, sollten etwa Polizeibehörden damit beginnen, sie zur Bekämpfung von Verbrechen zu benutzen, die nichts mit Ladendiebstahl zu tun haben.
(bsc)