Welche Vorteile die Gesundheitsdigitalisierung in der Pflege bringen könnte

Bald soll auch die Pflege an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sein. Über mögliche Vorteile und was noch zu tun ist, sprachen wir mit Bruno Ristok.

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Junge Person zeigt einer älteren Person ein Smartphone

(Bild: Bencemor/Shutterstock.com)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Bruno Ristok ist Leiter des C&S Instituts, das sich unter anderem an Forschungsprojekten beteiligt.

(Bild: Ristok)

Für den Pflegebereich soll die Telematikinfrastruktur (TI) – die Datenautobahn des Gesundheitswesens – in Zukunft eine größere Rolle spielen. Bis Juli 2025 sollen Pflegeeinrichtungen an die TI angeschlossen sein, das Datum ist Experten zufolge jedoch unrealistisch. Über die mit dem TI-Anschluss verbundenen Hoffnungen und Hürden haben wir mit Bruno Ristok, Geschäftsführer von C&S Computer, gesprochen. Er versucht, die Digitalisierung der Pflege voranzubringen.

heise online: Welche Vorteile bietet die TI fĂĽr Pflegeeinrichtungen?

Ristok: Die Vorteile der TI für Pflegeeinrichtungen sind vielfältig. Erstens bietet sie eine DSGVO-konforme Kommunikation mit Ärzten und anderen Leistungserbringern im Gesundheitswesen. Zweitens ermöglicht sie eine sichere digitale Identität des jeweiligen Empfängers. Das ist relevant, um beispielsweise Fake-Ärzte oder -Kliniken zu vermeiden. Drittens erhalten Pflegeeinrichtungen Zugang zu Daten, die bisher nicht zugänglich waren, aber für die Pflege ist etwa die elektronische Medikationsliste wichtig. Insgesamt verbessert die TI die Produktivität in den Pflegeeinrichtungen sowie die Versorgungsqualität für die Patienten.

Und wie sieht es mit der Implementierung des E-Rezepts aus? Gibt es da noch Unklarheiten?

Das E-Rezept ist Teil des Medikationsprozesses, der momentan noch arztzentriert ist. Das bedeutet, dass Pflegeeinrichtungen oft außen vor bleiben. Der Prozess ist derzeit so gestaltet, dass es für Pflegeeinrichtungen umständlich ist, das Rezept einzulösen – aufgrund des Zuweisungsverbots benötigen sie beispielsweise für jeden Bewohner eine eigene Gesundheitskarte um die Medikamente in der Apotheke zu erhalten. Dieser Prozess als auch der rund um die Medikation, insbesondere was von den Apotheken konkret dispensiert wurde, sollte für die Pflegeeinrichtungen transparent verfügbar sein. Solche und ähnliche Prozesse sollten über den FHIR-Server der Gematik abgewickelt werden, insgesamt fehlt es an manchen Stellen aber an der Gesamtschau der Prozesse und damit der Interoperabilität.

Gibt es Pläne oder Vorschläge, wie man diesen Prozess vereinfachen könnte?

Ja, es gibt Überlegungen, den Prozess durch einen dynamischen Consent zu vereinfachen. Das bedeutet, dass die Pflegeeinrichtungen mit Zustimmung der Klienten oder ihrer gesetzlichen Vertreter agieren könnten. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Prozesse durch digitale Kommunikation, wie sie durch KIM (Kommunikation im Medizinwesen) ermöglicht wird, zu optimieren.

Sie haben vorhin die elektronische Patientenakte (ePA) erwähnt. Welche Rolle spielt sie in diesem Kontext?

Die ePA ist ein zentrales Element der TI, da sie sektorenübergreifend Daten zur Verfügung stellen kann. Sie ermöglicht es, Medikationspläne und andere wichtige Gesundheitsdaten digital zu verwalten und zu teilen. Der Nutzen der ePA liegt vor allem in der verbesserten Kommunikation und Koordination zwischen verschiedenen Gesundheitsdienstleistern. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Datenpflege bei den ärztlichen Leistungserbringern und Kliniken.

Wie sieht es mit der Akzeptanz und der Anbindung der TI in der Pflege aus?

Die Umsetzung der TI ist definitiv ein langfristiger Prozess, der sich über Jahre erstrecken wird. Wichtig ist, dass Pflegeeinrichtungen und andere Akteure kontinuierlich Rückmeldungen geben, um den Prozess zu verbessern. Der Schlüssel liegt darin, Prozesse zu überdenken und zu optimieren, anstatt einfach bestehende Abläufe zu digitalisieren. Was in der Pflege helfen würde, wäre beispielsweise der Überleitungsbogen für Informationsobjekte in der Pflege (PIO) oder bei TI-Messenger die Kommunikation mit den Angehörigen.

Welche Vorteile verspricht der PIO-Ăśberleitungsbogen?

Dieser standardisiert und verbessert die Qualität der Überleitung von einem Gesundheitsdienstleister zu anderen. Damit wird das Informationsniveau des empfangenden Pflegedienstleisters erhöht. Das sogenannte Onboarding eines Klienten sollte damit effizienter und qualitativ besser erfolgen können. Zugleich wird die Versorgungskontinuität für den Klienten verbessert. Das erhöht zum einen die Lebensqualität und zum anderen senkt es die Kosten im Gesundheitswesen.

PIO-Ăśberleitungsbogen

Ein Pflege-Informationsobjekt, kurz PIO, stellt Informationen in strukturierter Form bereit, die fĂĽr den Bereich "Pflege" relevant sind. Im PIO-Ăśberleitungsbogen werden pflege- und versorgungsrelevante Informationen ĂĽber die zu pflegende Person zwischen den Einrichtungen weitergeleitet. Der PIO-Ăśberleitungsbogen kann mit dem KIM-Dienst versandt oder in die ePA fĂĽr alle eingestellt werden.

Darüber hinaus ist der PIO-Überleitungsbogen auch ein wichtiges Signal im Hinblick auf die anderen Berufe im Gesundheitswesen, insbesondere der Pflege. Wäre er doch die erste Anwendung in der TI, die speziell für die Pflege implementiert wird. Ein wichtiges Zeichen, dass die TI mehr ist als Medizin.

Der PIO-Ăśberleitungsbogen wird bereits seit Jahren angekĂĽndigt. Woran scheitert es?

Eigentlich sollte der PIO-Überleitungsbogen zum 1. Januar 2025 verbindlich eingeführt werden. Grundlage hierfür war das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetzes (DVPMG) am 9. Juni 2021 und die Veröffentlichung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Interoperabilitäts-Navigator INA vom Dezember 2022.

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Und dann hat die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (DigiG) diesen Termin im März 2024 aufgehoben und den neuen Termin auf eine zu erlassende Rechtsverordnung verschoben. Und seitdem wartet die Pflege auf diese Rechtsverordnung. Ich empfinde diese Entscheidung aus mehreren Gründen als sehr problematisch:

Bisher ist der PIO-Ăśberleitungsbogen die einzige Anwendung speziell fĂĽr die Pflege. Er wĂĽrde konkrete Mehrwerte fĂĽr die Pflege als auch generell fĂĽr die Versorgung liefern. Dass er jetzt erst einmal nicht kommt, ist ein fatales Signal an die Pflege. Damit wird das Vertrauen in Termine des Gesetzgebers damit ein weiteres Mal untergraben. AuĂźerdem wird es fĂĽr Unternehmer und besonders fĂĽr KMU immer schwieriger, Investitionsentscheidungen zu treffen, um zum Beispiel als Early Adopter Marktanteile zu gewinnen.

Was erhoffen Sie sich von der Politik in Bezug auf die Digitalisierung im Pflegebereich?

Von der Politik erhoffe ich mir vor allem Termintreue bei der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben. Außerdem wäre es wünschenswert, ein Pflegezukunftsgesetz zu verabschieden, das ähnlich wie das Krankenhauszukunftsgesetz die Digitalisierung in der Pflege durch eine Anschubfinanzierung auf ein neues Digitalisierungsniveau bringt. Zudem wäre es hilfreich, wenn die Pflege als auch die anderen Berufe im Gesundheitswesen mehr in den Focus der Telematik gestellt werden. Die derzeit vorherrschende Arztzentrierung ist ein Relikt aus dem vergangenen Jahrtausend. Gesundheit wird nicht mehr allein von einer Berufsgruppe definiert.

Wie könnte die Zukunft der Pflege aussehen?

Vernetzt. Pflege braucht Vernetzung. Dazu ein praktisches Beispiel. Nehmen wir mal an, eine Person wird aus einer Klinik entlassen, benötigt aber weiterhin eine pflegerische Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst. Wäre es nicht großartig, wenn der Versicherte mit der elektronischen Gesundheitskarte beim Erstbesuch auch Essen auf Rädern rechtsverbindlich bestellen könnte. Technisch ist das möglich. Und was die Vernetzung beziehungsweise die Interoperabilität mit anderen Sektoren betrifft, benötigen wir aus meiner Sicht eine Gaia-X-Kompatibilität.

Warum gerade Gaia-X?

Eine ganzheitliche Pflege und Betreuung umfasst mehr als die Domäne Gesundheitswesen. Bürger wollen möglichst lange selbstbestimmt im eigenen Haushalt leben. Um das zu ermöglichen, benötigen wir Dienste, Services sowie Schnittstellen zu anderen Domänen. Zum Beispiel zur Mobilität oder Smart Living.

Um es am Beispiel zu illustrieren. Um zum Arzt zu gelangen, brauche ich gegebenenfalls eine Mobilitätsdienstleistung. Über das Gaia-X-Konzept mit seinen Services, den einheitlichen digitalen Identitäten sowie der semantischen Interoperabilität ist das einfach möglich, ohne jeweils eine Anzahl X an Schnittstellen zu programmieren. Das macht sowohl auf der Ebene der Dienstleister als auch gesamtgesellschaftlich Sinn. Reduziert es doch die Kosten und erhöht gleichzeitig die Produktivität im Gesundheitswesen. Angesichts fehlender Fachkräfte ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Und bei Gaia-X geht es um mehr. Es geht um die digitale Souveränität Europas. Es geht um unser europäisches Verständnis der Datensouveränität des Bürgers.

Welche Digitalthemen sind im Bereich Pflege noch wichtig?

Andere Themen sind zum Beispiel Ambient Assisted Living (AAL). Damit wird es Bürgern ermöglicht, selbstbestimmt im eigenen Haushalt zu leben. Das umfasst dabei nicht nur alte Menschen, sondern auch Menschen mit Beeinträchtigungen. Eingebaute Sensorik kann helfen, die Sicherheit zu erhöhen, Veränderungen wahrzunehmen und individualisierte Hilfeleistungen anzubieten. Wichtig ist auch hier, dass vernetzt gedacht wird. Eine technische Grundlage wäre ebenfalls Gaia-X. In ForesightNEXT entsteht aktuell mit Förderung des BMWK ein auf Gaia-X bestehendes Smart Living Datenökosystem, das auch die Anbindung an die Domäne Gesundheitswesen umfasst.

(mack)