Lothar Wieler: "20 Jahre fĂĽr elektronische Patientenakte ein trauriger Witz"
Wie Digitalisierung die Gesundheitsversorgung verbessern könnte und welche Rolle das Hasso-Plattner-Institut dabei haben soll, erklärt Lothar Wieler im Gespräch
(Bild: Art Stock Creative, Bearbeitung: heise online)
Beim Digital Health Innovation Forum des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) haben sich Forscher, Politiker und Unternehmer getroffen, um ĂĽber Innovationen im Bereich digitale Gesundheit zu diskutieren.
(Bild:Â HPI)
Wir haben mit Lothar Wieler gesprochen, der vor seiner Zeit am HPI unter anderem Leiter des Robert Koch-Instituts war. Beim Hasso-Plattner-Institut will er Forschung vorantreiben und für bessere Evidenz sorgen – speziell für den Bereich der Öffentlichen Gesundheitsfürsorge ("Public Health").
Wie wollen Sie öffentliche Gesundheit am HPI voranbringen?
Ich möchte mich wirklich auf die Prävention konzentrieren. Der Gedanke ist eigentlich trivial. Die Mehrheit der Krankheitslasten könnte durch ein gesundes Leben, durch Verhaltensveränderungen und durch mehr Sport verhindert werden. Dann bräuchten wir gar nicht so viele Ärzte, die behandeln. Natürlich müssen wir uns dabei überlegen, wie wir das machen, und wie wir die Möglichkeiten der Digitalisierung dafür nutzen.
Wir benötigen natürlich die richtigen Informationen, die wir an die richtigen Leute bringen müssen. Mit großen Sprachmodellen können Sie Informationen zielgerichtet an bestimmte Gruppierungen bringen und an bestimmte Sprachhintergründe.
Videos by heise
PrĂĽft das nochmal jemand?
Das muss natürlich alles pilotiert werden, das ist klar. Mit Tools wie Chatbots oder generativer KI, die mit Menschen auf einer Ebene kommunizieren, die Menschen dort abholen, wo sie sind, dann können Sie natürlich viel gezielter informieren. Dafür sind funktionierende Communities nötig. Das ist der klassische Gedanke von Public Health. Wir reden da vom Setting, in welches bestimmte Informationen hineingehören.
Das geht vereinfacht mit KI, mit den Daten und Informationen, die wir haben. Wir haben dann auch die Möglichkeit, das in Bildmaterial umzuwandeln und so gezielter Menschen zu erreichen – wir nennen das Digital Storytelling. Das Upscaling von Informationen ist ein Riesengebiet in der sogenannten "Precision Public Health".
Da spielen Apps wahrscheinlich eine groĂźe Rolle?
Ja, Apps spielen eine große Rolle. Sie können sich da aber alles Mögliche vorstellen. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Es gibt ein Projekt in Johannesburg, in Südafrika, wo zum Beispiel ein Chatbot entwickelt wird, der es ermöglicht, dass Patienten ihre Anamnesen einfach reinsprechen. Das wird ausgewertet und erst dann treffen sie den Arzt. Dort gibt es zu wenig Ärzte, die einfach nicht so viel Zeit haben, länger mit den Patienten zu sprechen, sodass sie anhand der Vorinformationen direkt viel gezielter informiert werden und Nachfragen stellen können.
Solche Chancen gibt es auf allen möglichen Ebenen. Die Ebene, die mich dabei am meisten interessiert, ist die präventive Ebene.
Ist das Deutsches Elektronische Melde- und Informationssystem fĂĽr den Infektionsschutz (DEMIS) dabei auch relevant?
Ja, DEMIS ist ein System, das in Deutschland vom Bundesministerium fĂĽr Gesundheit jahrelang nicht genĂĽgend finanziert wurde, weshalb DEMIS beim Anfang der Pandemie leider nicht am Start war.
Die Meldedaten könnte man mit DEMIS in Real-Life-Dashboards sichtbar machen. Dann können Sie sehen, was wirklich momentan los ist. Das ist ja technisch möglich, braucht aber eine saubere Datengrundlage. DEMIS ist eine Plattform, die das auch mal zukunftsfähig machen soll.
Wir im HPI haben mit unserem Partner, dem Mount Sinai Hospital in New York, jetzt beispielsweise ein Dashboard entwickelt, das Daten aus den elektronischen Health Records der Patienten im Krankenhaus projiziert. Zum Beispiel Daten von Patienten mit Impfung, ohne Impfung, mit COVID-19 Erkrankung. Daran sieht man sehr schön, dass die mit Impfung eben viel weniger schwere Erkrankungen haben. Wenn Sie sich vorstellen, dass sie diese Information während der COVID-19-Pandemie in einem Krankenhaus haben, und die Patienten in die Eingangshalle hineinkommen und diese Zahlen sehen, wird sofort sichtbar, dass die Impfung eine positive Wirkung hat. Sie können viele echte Daten sehr schön illustrieren. Das ist natürlich auch mit KI deutlich einfacher geworden.
Der Europäischer Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space, EHDS) ist jetzt in Kraft getreten. Müssen Forscher in Zukunft gar keine Daten mehr erheben?
Natürlich müssen wir Daten erheben. Der Start des EHDS ist noch lange kein Vollzug. Es wird wahrscheinlich ähnlich unbefriedigend sein wie das Forschungsdatennutzungsgesetz. Dort ist das Aggregationslevel der Daten so hoch, dass sie eigentlich bestimmte Fragen gar nicht beantworten können. Das heißt, wenn sie auf ein Level von Gruppen oder von einzelnen Fällen gehen, benötigen sie deutlich weniger aggregierte Daten. Ich bin froh, dass es diese Initiative gibt, aber was letztlich herauskommt, wie das genutzt wird, das steht ja wirklich noch in den Sternen.
Würden Sie denn Forschungsanträge beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit stellen?
Klar, grundsätzlich würde ich das tun. Momentan habe ich aber andere Quellen, um meine Forschung zu betreiben. Aber diese ganzen Bemühungen, dass man Daten zentralisiert zur Verfügung stellt, sind aus Sicht eines Forschers genau die richtigen. Aus Sicht eines Datenschützers ist es eine Erhöhung des Risikos, klar. Und Deutschland ist lange hinterher gewesen, gerade was die Forschung auch angeht. Es gilt immer abzuwägen zwischen Nutzen und Risiko. Wenn wir uns stets auf das Risiko fokussieren, wird Innovation verhindert – Innovation, die zum Beispiel die Behandlung Erkrankter verbessert.
Digital Health abonnieren
Alle 14 Tage bieten wir Ihnen eine Ăśbersicht der neuesten Entwicklungen in der Digitalisierung des Gesundheitswesens und beleuchten deren Auswirkungen.
E-Mail-Adresse
Ausführliche Informationen zum Versandverfahren und zu Ihren Widerrufsmöglichkeiten erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ist das HPI da die Lösung?
Es gibt immer schon tolle Forschung. In Deutschland ist das Gesundheitssystem allerdings von Stakeholdern und Lobbygruppen hochgradig durchdrungen. Diese sind für die Transformation und Innovation aus allen möglichen Gründen wenig förderlich. Wenn Sie in einem Start-up ein tolles Medizinprodukt entwerfen, dann ist das vielleicht in zehn Jahren im Markt. Der bessere Weg ist es, Produkte zu entwerfen, die außerhalb des Medizinsystems pilotiert werden und dann irgendwann, wenn sie marktreif sind, dann können sie im Gesundheitswesen genutzt werden.
Also nicht wie bei der elektronischen Patientenakte (ePA)?
Ja. Dass wir für die ePA mehr als 20 Jahre benötigt haben, ist ein trauriger Witz. Es ist natürlich ein Drama, dass wir die ePA nicht schon seit vielen Jahren nutzen. Das ist nichts, worauf wir stolz sein können.
Was ist an dem Hasso-Plattner-Institut anders als bei bisherigen Initiativen im Bereich Forschung?
Beim Hasso-Plattner-Institut haben wir ein vorbildliches Ökosystem: Erstens haben wir super Studierende. Das sind top motivierte, fleißige junge Menschen, die einem echt Hoffnung für die Zukunft machen. Zweitens haben wir eine relativ große Zahl an Professorinnen und Professoren, die ausschließlich im Digital-Health-Bereich forschen; und das Dritte ist: Wir haben auch eine Design-Thinking-School. Meist wird der Endnutzer, zum Beispiel der Patient, leider nicht mitgedacht. Mit der Design-Thinking-School ist die Chance größer, dass es in die Praxis kommt. Und dann haben wir noch eine Entrepreneurship-School, mit der wir die Studierenden motivieren, tolle Ideen zu haben – und auch einmal scheitern zu können.
(mack)