Überwachung: Deutsches IP-Catching ist geheimer als geheim
Mobilfunkbetreiber, die Bundesregierung und Strafverfolgungsbehörden wie das BKA halten sich zur umstrittenen Überwachungsmethode IP-Catching bedeckt.
(Bild: Gorodenkoff / Shutterstock.com)
Um den Betreiber des pädokriminellen Forums Boystown zu enttarnen, führte Telefónica Deutschland 2020 großflächige Beschattung aller IP-Adressen der Nutzer der eigenen Marke o2 durch. Wie oft dieses sogenannte IP-Catching eingesetzt wird, bleibt aber weiter im Dunkeln. Telefónica Deutschland will demnach konkrete Fragen zu dem genannten Vorgang und potenziellen weiteren nach wie vor nicht beantworten.
Dies berichtet Netzpolitik.org unter Verweis auf ausgewertete und nun öffentlich gemachte Anfragen und Ermittlungsdokumente. Von dem Telecom-Konzern sei nur zu hören, dass er mit Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich kooperiere und für die IP-Falle ein richterlicher Beschluss notwendig sei. Die Deutsche Telekom hat gegenüber Netzpolitik.org erklärt, in den vergangenen fünf Jahren "keine IP-Catching-Maßnahmen durchgeführt" zu haben. Dem Konzern seien auch "keine gerichtlichen Anordnungen zum IP-Catching bekannt". Vodafones schmallippige Aussage: "Kein Kommentar."
Ziel des IP--Catching ist, herauszufinden, welche Personen einen bestimmten Dienst im Internet genutzt haben. Dazu werden alle IP-Adressen der Nutzer des jeweiligen Services erhoben. Es geht um sehr umfangreiche Datenmengen, da die Mobilfunkbetreiber jeweils viele Millionen Kunden haben.
Zu geheim für die Geheimschutzstelle
Die ungewöhnliche Überwachungsmaßnahme, die letztlich zur Identifizierung und Verurteilung eines Betreibers von Boystown führte, hat das Amtsgericht Frankfurt am Main am 17. Dezember 2020 angeordnet, auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt. Wie oft sie das sonst noch beantragt hat, ist nicht bekannt: Es gäbe "keine gesetzliche Vorgabe" zur statistischen Erfassung solcher Einsätze, sagen die Strafverfolger. Oberstaatsanwalt Benjamin Krause habe "die derzeit im Dienst befindlichen" Kollegen gefragt, ob sie sich an einen solchen Fall erinnern können: "Dies war nicht der Fall."
Auch die Bundesregierung gibt sich in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger (Linke) bedeckt. Die Regierung sagt öffentlich nur, dass das Bundeskriminalamt (BKA) im Boystown-Fall "im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen und auf Basis eines richterlichen Beschlusses tätig gewesen ist". Weitergehende Auskünfte dazu seien "geheimhaltungsbedürftig und berühren in besonders hohem Maße das Staatswohl, weil sie Informationen enthalten, die im Zusammenhang mit der Arbeitsweise und Methodik des BKA stehen".
Nach sorgfältiger Abwägung ist die Regierung laut eigenem Bekunden zu dem Schluss gekommen, dass auch "das geringfügige Risiko" einer Offenlegung einschlägiger Darlegungen "nicht getragen werden kann". Selbst eine "Hinterlegung der in diesen Fragen angefragten Informationen in der Geheimschutzstelle" des Bundestags "würde ihrer erheblichen Brisanz im Hinblick auf die Bedeutung der genannten Fähigkeiten für die Aufgabenerfüllung des BKA nicht ausreichend Rechnung tragen".
Begriff taucht in Jura-Kommentar auf
Selbst beim Bundesnachrichtendienst (BND), dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) gibt sich die Regierung nicht ganz so streng. Auch dort ist sie zwar der Ansicht, dass die Frage nicht in offener Form beantwortet werden kann. Sie stuft die begehrten Informationen als geheim ein, hat sie aber für Volksvertreter "zur Einsichtnahme in der Geheimschutzstelle" des Parlaments hinterlegt. Einschlägige Auskünfte zum Zollkriminalamt betrachtet sie als nur für den Dienstgebrauch zugängliche Verschlusssache und hat sie als nicht zur Veröffentlichung bestimmte Anlage übermittelt.
Die Bundespolizei hat laut der Antwort in den vergangenen fünf Jahren keine IP-Catching-Maßnahme durchgeführt. Der Generalbundesanwalt erfasse die erfragten Informationen nicht statistisch. Eine Auskunft sei daher "mit zumutbarem Aufwand nicht möglich".
Hervorgeht aus den publizierten Papieren zumindest, dass der Rechtswissenschaftler Wolfgang Bär IP-Catching erstmals in einem juristischen Kommentar erwähnt hat. Der Eingriff entspreche "quasi einer Funkzellenabfrage, die sich aber statt auf Mobilfunkdaten hier auf die verwendeten IP-Adressen bezieht", schreibt der Jurist, der seit 2015 Richter am Bundesgerichtshof ist. "Es erfolgt damit eine Echtzeiterhebung künftig anfallender Verkehrsdaten in Form von IP-Adressen." Das Instrument führe aber dazu, "dass eine Vielzahl von auch unbeteiligten Personen betroffen sein kann. Dadurch ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zum IP-Tracking mit einer konkreten Zielperson."
Große Streubreite
Das Problem überbordender Grundrechtsverletzungen versucht die Staatsanwaltschaft im Fall des über einen Tor-Onion-Dienst betriebenen Online-Forums so zu lösen: Telefónica müsse zwar kurzfristig alle Verkehrs- und Inhaltsdaten speichern, schreibt sie. Aber die besonders sensiblen Kommunikationsinhalte würden "sofort wieder ungeprüft gelöscht". Übrig blieben so ausschließlich die Verkehrsdaten der relevanten Verbindungen". Telefónica solle diese intern abgleichen und dem BKA "lediglich die Bestandsdaten" des gesuchten Kunden mitteilen.
Die Kritik an diesem Vorgehen verstummt nicht. "Die aktuelle Gesetzeslage genügt für den Einsatz der Maßnahme nicht", moniert etwa die Neue Richter:innenvereinigung. "Es existieren lediglich Regelungen, die vergleichbare Maßnahmen, aber nicht das IP-Catching erfassen." Ohne spezifisches Gesetz dürfe das Verfahren nicht eingesetzt werden. Statt Geheimhaltung sei eine öffentliche Debatte nötig.
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Auch der Bayreuther Strafrechtler Christian Rückert hat "ernstliche Zweifel" geäußert, ob IP-Catching auf die bestehenden Rechtsgrundlagen gestützt werden könne. Die große Streubreite der Maßnahme sei materiellrechtlich problematisch.
(wpl)