Aus für Anonymität: Schweizer Online-Nutzer sollen sich identifizieren müssen

Ein Verordnungsentwurf in der Schweiz sieht vor, dass User aller größeren Plattformen eine Ausweis- oder Führerscheinkopie oder eine Telefonnummer vorlegen.

vorlesen Druckansicht 214 Kommentare lesen

(Bild: muhammadtoqeer/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis
close notice

This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Die Schweizer Regierung in Form des Bundesrats und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) wollen die Internetüberwachung massiv ausbauen. So sollen künftig auch Online-Dienste, die mindestens 5000 Nutzer haben, Metadaten wie IP-Adressen und Portnummern sechs Monate auf Vorrat speichern sowie der Polizei und Geheimdiensten beim Entschlüsseln von Inhalten helfen müssen. Neu hinzukommen wird dem Plan nach auch eine Auflage für solche Betreiber, User zu identifizieren. Diese müssten eine Ausweis- oder Führerscheinkopie vorlegen oder zumindest eine Telefonnummer angeben. Für das Registrieren einer SIM-Karte besteht in der Schweiz – wie in Deutschland – bereits Ausweispflicht.

Die neuen Überwachungsvorschriften sollen nicht gesetzlich unter Mitspracherecht des Parlaments eingeführt werden, sondern über Novellen der Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (VÜPF) sowie der zugehörigen Durchführungsbestimmung. Die VÜPF ist mit der hiesigen, ebenfalls seit Jahren heftig umstrittenen Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) vergleichbar.

Die beiden Schweizer Verordnungen regeln generell, welche Anbieter von Kommunikationsdiensten wann welchen Mitwirkungspflichten vor allem bei der Strafverfolgung unterliegen. Betroffene müssen dazu etwa Nutzer abhören, berechtigen Behörden Auskünfte erteilen sowie Daten über ihre Kunden sammeln und weitergeben. Die meisten und umfassendsten Auflagen galten bisher für klassische Telekommunikationsunternehmen wie Swisscom, Salt oder Sunrise sowie für E-Mail-Anbieter. Durch neue Schwellenwerte will die Exekutive den Kreis der Verpflichteten nun deutlich aufbohren und der Anonymität im Internet den Kampf ansagen.

Im Rahmen einer Konsultation zu den zwei Entwürfen von Ende Januar, die am Dienstag auslief, formiert sich Widerstand. Wer eine Schweizer App, Software oder Plattform nutze, riskiere gläsern und identifizierbar zu sein, monieren Kritiker. Auch kleine und mittlere Unternehmen müssten einen enormen Aufwand betreiben, um die geforderten umfangreichen Datenbanken gegen Cyberangreifer abzusichern. Der Verein Digitale Gesellschaft gibt zu bedenken: "In Zukunft wäre es wohl kaum mehr möglich, etwa eine Chat-App zu nutzen, ohne direkt oder indirekt einen amtlichen Ausweis hinterlegt zu haben."

Erfasst wären auch Cloud-Dienste und das Teilen sowie gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten, beklagt die Schweizer Bürgerrechtsorganisation. Neben Privatpersonen wären auch Berufsgeheimnisträger betroffen, wie etwa Ärzte, Anwälte oder Journalisten sowie andere besonders schutzbedürftige Gruppen wie Whistleblower, Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus und Aktivisten. Pilotprojekte, gemeinnützige Träger oder Open-Source-Dienste könnten kaum mehr sinnvoll betrieben werden, da sie übermäßig schnell in den Kreis der Verpflichteten fielen. Neben Widersprüchen zum eigentlichen Überwachungsgesetz ergäben sich auch Verstöße gegen das Datenschutzgesetz, das vor allem das Prinzip der Datenminimierung enthalte.

"Die Revision stellt einen Frontalangriff auf unsere Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Möglichkeit zu sicherer und geschützter Kommunikation dar", resümiert die Digitale Gesellschaft. Mit der Umsetzung würde das Vertrauen in Online-Dienste der Alpenrepublik nachhaltig beschädigt und die Schweiz manövrierte sich politisch und gesellschaftlich ins Abseits. "Bestehende Monopole" internationaler Konzerne wie WhatsApp blieben dagegen außen vor und würden so weiter gestärkt.

Auch Jonathan Messmer von der IT-Anwaltskanzlei Ronzani/Schlauri ist besorgt. "Im Extremfall könnten Strafverfolgungsbehörden alle fünf Sekunden eine automatisierte Anfrage an Unternehmen mit vollen Überwachungspflichten stellen und somit 'in Echtzeit' alle soeben erst registrierten Zugriffe rausholen", erklärte er gegenüber dem Magazin Republik. So lasse sich "eine ganze Historie aufbauen". Die Privatsphäre im Netz werde "systematisch abgeschafft".

Mit dem Vorhaben zielt der Bundesrat vor allem auf die verschlüsselten Kommunikationsdienste Threema und Proton. Schon früher wollte der Staat beide Unternehmen quasi als Netzbetreiber und Telekommunikationsanbieter einstufen, sodass auch für sie etwa die Pflicht zur Echtzeitüberwachung und Vorratsdatenspeicherung gegolten hätte. Beide Firmen wehrten sich dagegen aber erfolgreich vor Gericht. Auf dem Verordnungsweg sollen sie nun doch mit erfasst werden: Da sie beide mehr als eine Million Nutzer und 100 Millionen Franken Umsatz jährlich haben, müssten sie vollumfänglich mit den Behörden kooperieren.

Videos by heise

Threema-Chef Robin Simon will sich alle Optionen gegen die Initiative offen halten. "Wir sind bereit, eine Volksinitiative zu lancieren, die den Ausbau des Überwachungsstaats verhindert", kündigte er gegenüber dem Tagesanzeiger an. Brisant: Der Bundesrat und die Schweizer Armee gehören zu den zahlreichen, auch internationalen Behördenkunden des Messenger-Dienstes. Proton-Chef Andy Yen gab an, die vorgesehenen Verordnungen auf keinen Fall erfüllen zu können. Er droht damit, die Schweiz notfalls zu verlassen.

Artikel 50a der VÜPF-Reform sieht vor, dass Anbieter mit reduzierten und vollen Pflichten "die von ihnen oder für sie angebrachten Verschlüsselungen" entfernen. Sie sollen dafür "den Fernmeldeverkehr der überwachten Person an geeigneten Punkten" erfassen und entschlüsseln, damit die begehrten Daten im Klartext geliefert werden können. Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen wären davon nicht betroffen. Allerdings nur, wenn diese "zwischen Endkunden" erfolgen. Auf Providerebene würde die Ausnahme für durchgängige Verschlüsselung so wohl nicht gelten.

(nie)