Missing Link: Fällt Afrinic und die Selbstverwaltung von IP-Adressen?

Die afrikanische IP-Adressregistry Afrinic steckt in einer tiefen Krise, bei der auch das globale System der IP-Adressverwaltung infrage steht.

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Eine Grafik zeigt einen symbolischen ZauberwĂĽrfel mit der Aufschrift "IPV4".

(Bild: TenPixels/Shutterstock)

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Von
  • Monika Ermert
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Die Zahl der Gerichtsverfahren der afrikanischen IP-Adressregistry Afrinic ist auf 61 angewachsen. Kritische Artikel über Afrinics Ankläger Lu Heng werden eher weniger. Der britische Telegraph und das südafrikanische eZine Cape Independant News nahmen Artikel gegen den streitfreudigen Adresshändler aus dem Netz. Keine guten Vorzeichen für die bevorstehende Wahl eines neuen Afrinic-Vorstandes. Gerät am Ende das bestehende System der IP-Adressvergabe in Schieflage?

Am 22. Februar 2005 nahm das African Network Information Center (Afrinic) seine Arbeit auf, als fünfte regionale Internet-Adressvergabestelle. Die vier Schwesterorganisationen, das erst kurz zuvor für Lateinamerika eingerichtete Lacnic, die für Nordamerika zuständige Arin, das für Asiens viele Länder zuständige APNIC und das Réseaux IP Européen (RIPE), feierten. Bis dahin war RIPE, die älteste der "Schwestern" für die Vergabe von IP-Adressblöcken auf dem afrikanischen Kontinent zuständig gewesen.

"Missing Link"
Missing Link

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Mit der "Unabhängigkeit" erhielten Afrikas Netzbetreiber einen Teil des bereits zur Neige gehenden IPv4-Adressraums aus dem von der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) gemanagten zentralen Pool. Weil IPv4 nur rund 4.3 Milliarden Nummern für das Routen von Internetverkehr erlaubt, war schon klar: Die Adressen werden knapp – wenn man nicht auf die längeren IPv6 umsteigen will.

Fast verbraucht: Übersicht der noch verbleibenden IPv4-Kapazitäten unter den Regional Internet Registries, gemessen in /8-IPv4-Adressblöcken.

(Bild: NRO)

Schon vor über 10 Jahren teilte ICANN schließlich die letzten IPv4-Blöcke an die fünf regionalen IP-Adressregistries (RIRs) aus. Nach und nach verkündeten sie das Ende der regulären IPv4-Vergabe. Afrika als Nachzügler im Netz reichten die Reserven noch etwas länger – und machten die jüngste RIR zum Ziel von Begehrlichkeiten.

Übersicht über die Verteilung aller 256 /8-Adressblöcke mit IPv4-Adressen. Rund 17 Millionen Adressen sind in jedem Block enthalten.

(Bild: NRO)

2019 veröffentlichte Spam-Jäger Ron Guilmette eine Studie zum Klau von Adressen durch Afrinic-Angestellte. Adressmanager Ernest Byaruhanga hatte sich etwa mehrere Millionen der knappen IPv4-Adressen unter den Nagel gerissen und teils meistbietend verkauft. Wert des über verschiedene Firmen organisierten Klaus: nach Guilmettes Schätzung runde 50 Millionen.

Der Aderlass veranlasste Afrinic, seit 2019 unter einem neuen CEO, genauer hinzuschauen – und damit ging der Ärger mit einem anderen Adresshungrigen los, dem Adresshändler und -verleiher Lu Heng.

Lu, mit seinem Stammunternehmen Larus in Hongkong ansässig, hatte über ein auf den Seychellen gegründetes Partnerunternehmen, Cloud Innovation Limited, nach und nach den drittgrößten Batzen aus dem Pool der knappen IPv4-Adressen von Afrinic ergattert. Insgesamt kamen laut Informationen von Afrinic 6,2 Millionen IPv4-Adressen zusammen. Bei Preisen zwischen 30 und zeitweise bis zu 50 US-Dollar pro Adresse ein beachtliches Vermögen.

Larus machte den Schatz nicht durch Verkauf zu Geld, sondern durch ein ausgefeiltes Leasingmodell. Das Unternehmen bot die begehrten Adressen weltweit an, vor allem auch auf dem nach alten Adressen hungernden chinesischen Markt.

2020 hakte die durch den "Adressschwund" im eigenen Haus aufgescheuchte Afrinic bei dem Hongkonger Unternehmer nach. Das Leasing außerhalb Afrikas widerspreche den Konditionen, zu denen das Afrinic-Mitglied Cloud Innovation die Adressblöcke erhalten habe, argumentierten die Adressmanager. Im März 2021 erklärte Afrinic kurzerhand, Cloud Innovation verstoße durch die Umwidmung der Nutzung und die Verwendung vor allem in Asien statt in Afrika gegen das Registry Service Agreement.

Dieses sieht mindestens eine Anzeige neuer Nutzungen vor. Lu hatte sich dagegen auf den Standpunkt gestellt, dass es bei der Vergabe der Adressen an Cloud Innovation keine Beschränkungen bezüglich der Nutzung gab. Da Lu den Verlust der Adressen befürchten musste, ging er juristisch in die Offensive.

Von den insgesamt 61 auf Afrinics Webseite gelisteten Verfahren betreffen heute nur ganz wenige den Kern des Streits: Hat Cloud Innovation gegen seinen Vertrag verstoĂźen und durfte Afrinic die Mitgliedschaft beenden? Diese Fragen sind begraben unter einem Haufen an Entscheidungen zu Verfahrensfragen.

Dramatisch wirkte sich im Verlauf das 2021 von Cloud Innovation durchgesetzte Einfrieren der Bankkonten der afrikanischen Adressvergabestelle aus. Die Anwälte hatten vorgetragen, dass die von Afrinic eilig erklärte Kündigung der Mitgliedschaft ihrer Klientin einen weit größeren finanziellen Schaden bescheren könnte, als Afrinics Konten hergaben.

Zwischen August und Oktober 2021 musste die IP-Adressverwalterin für den gesamten afrikanischen Kontinent daher jonglieren und teils auf die Unterstützung ihrer RIR-Schwestern zurückgreifen, um Mitarbeiter und laufende Verbindlichkeiten bezahlen zu können.

2023 kam es noch dicker, als per Gerichtsbeschluss die anstehenden Vorstandswahlen gestoppt wurden. Denn anschließend stand Afrinic ohne entscheidungsfähigen Vorstand da. Der auslaufende Vertrag des 2019 eingesetzten CEO, Eddy Mabano Kayihura, konnte so nicht verlängert werden.

Afrinic stand fortan kopflos da und Cloud Innovation beeilte sich, jegliche gerichtlichen Schritte seines Gegners zu torpedieren, indem man auf die fehlende Vertretungsberechtigung hinwies.

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Als "juristischen Terror" hatte der US-amerikanische Internet-Governance-Experte Milton Mueller die Strategie Lu Hengs schon im Sommer 2021 in einer Analyse zu Afrinics Krise bezeichnet. Nicht, dass es keine Kritik an Afrinic gab, dass man sich auf diese juristische Schlacht gestürzt hatte, anstatt zunächst den Adressklau im eigenen Haus aufzuarbeiten.

Jetzt soll endlich wieder alles besser werden. Der vom Gericht in Mauritius bestellte externe Verwalter, der Anwalt Gowtamsingh Dabee, hat Neuwahlen für den 23. Juni angekündigt. Dabee folgte erst im Februar dem im Herbst 2023 mit der Ordnung der Situation beauftragten Vorgänger Vasoodayven Virasami. Virasami hatte es nicht geschafft, die Wahl zu organisieren und sah sich außerdem noch dem Vorwurf der Parteilichkeit zugunsten von Cloud Innovation ausgesetzt.

Dabee hat nun in mehreren Memos den Kurs für die Wahl im Juni vorgegeben. Bemerkenswert: Der Verwalter setzt fürs Nominierungskomitee allein auf britische Anwälte. Die elektronische Stimmabgabe soll die britische Softwaredienstleister Civica Election Services Ltd veranstalten.

"Konnten wir wirklich im ganzen Kontinent niemand finden, der diese Rollen hätte übernehmen können?", fragt Noah Maina, Generalsekretär des tansanischen Internet-Service-Provider-Verbands. Maina erwägt, das Wahlprozedere gerichtlich überprüfen zu lassen, um eine satzungsgerechte Wahl zu garantieren. Die Daten der Afrinic-Mitglieder an ein ausländisches Unternehmen zu übermitteln, hält er dabei auch datenschutzrechtlich für problematisch.

Kann sich Afrinic beim Versuch, wieder handlungsfähig zu werden, weitere Verzögerungen leisten? Brian Longwe, Internet-Provider und Unternehmensgründer aus Kenia, rät, die Wahl, trotz der britischen Anwaltshoheit im Nominierungskomitee, nicht zu torpedieren. Ihm bereite viel eher Sorgen, wie man gute Kandidaten bekannt machen könne. Denn Cloud Innovation und Lu Heng sind längst in einem aggressiven Wahlkampf um die Stimmen der 2000 Mitgliedsunternehmen von Afrinic.