Barrierefreiheit wird (erneut) Pflicht: Amazon.com wittert Wachstum
Ab Ende Juni drohen Verwaltungsstrafen, wenn Produkte und Dienstleistungen nicht barrierefrei sind. Anlass fĂĽr ein ISPA-Forum in Wien.
Shadi Abou-Zahra, Principal Accessibility Standards and Policy Manager, Amazon.com am ISPA-Forum 2025
(Bild: Daniel AJ Sokolov)
Früher dachte die blinde Übersetzerin Susanne Buchner-Sabathy, dass Barrierefreiheit essenziell für eine bestimmte Gruppe sei, aber nützlich für eine viel größere Gruppe. Inzwischen ist sie zu der Überzeugung gelangt, dass "Barrierefreiheit essenziell für alle" ist. Beim ISPA-Forum 2025 in Wien lieferte die Beraterin für barrierefreie Webseiten auch gleich ein Beispiel: "Ein E-Mail, das mit weißer Schrift auf weißem Grund dargestellt wird, würde mir persönlich gar nichts machen." Schließlich kann ein Screenreader oder ein Braille-Display damit umgehen. "Aber wenn ich Ihnen (weiß auf weiß) antworte, meinen Sie vielleicht, ich pflanze Sie. Dabei sind meine Anforderungen an Barrierefreiheit erfüllt, nur Ihre nicht."
(Bild:Â Daniel AJ Sokolov)
Anlass für die Veranstaltung des österreichischen Providerverbandes ISPA (Internet Service Providers Austria) ist, dass in Österreich ab 28. Juni 2025 Verwaltungsstrafen drohen, wenn bestimmte Produkte und Dienstleistungen nicht barrierefrei sind – genau wie in Deutschland. Dabei besteht die gesetzliche Pflicht schon lange: Diskriminierung aufgrund einer Behinderung ist in Österreich seit 2019 verboten, in Deutschland bereits seit 2006.
Doch bislang mussten Betroffene zuerst ein Schlichtungsverfahren durchlaufen, um bei unzulänglichem Ergebnis dann mittels Klage Schadenersatz zu erstreiten. Das ist aufwendig und wird daher selten genutzt. Ab Ende Juni können Verwaltungsbehörden Geldstrafen verhängen. Direkte Auflagen für einzelne Anbieter, ihre Produkte oder Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten, sind weiterhin nicht vorgesehen.
Der EU-Gesetzgeber, dessen Richtlinie durch nationale Gesetze umgesetzt wird, hofft, dass die Kombination aus Peitsche (Verwaltungsstrafen) und Karotte (Wachstumschance) zu besserer Inklusion führt. In letztere Kerbe schlug beim ISPA-Forum unter anderem Shadi Abou-Zahra, der seit 2021 bei Amazon.com der Principal Accessibility Standards and Policy Manager ist: "15-20 Prozent der Bevölkerung haben eine Behinderung. Und, ganz ehrlich, wir hätten sie gerne als Kunden. Dafür müssen wir sie nicht nur erreichen, sie müssen die Angebote lieben." Daher müssten Webentwickler die Barrierefreiheits-Standards als Minimum begreifen. "Das ist nicht das Ziel, das ist ein Kompromiss."
"Checklisten reichen nicht"
Rechtlich ist nicht die Einhaltung von Standards oder Normen vorgeschrieben, sondern Barrierefreiheit an sich. Wer Standards oder harmonisierte Normen einhält, profitiert zwar von vermuteter Konformität, doch könnte die Vermutung widerlegt werden. "Die Probleme hören nicht auf, nur weil etwas digital ist", sagte Abou-Zahra, "Man muss sich mit den Betroffenen auseinandersetzen; herausfinden, was sie wollen, was sie brauchen. Es reicht nicht, Checklisten abzuarbeiten." Dabei war der Mann von 2003 bis 2021 selbst bei der W3C-Web-Accessibility-Initiative tätig.
Abou-Zahra erwähnte beim ISPA Forum gleich mehrere Amazon-Angebote, die über Standards für Barrierefreiheit hinausgehen. Einfache Fernbedienungen zum Beispiel, da "komplexe Fernbedienungen mit hunderttausend Knöpfen ein Problem für Menschen mit Lernbehinderung" sind. Oder optionale Einblendungen mit den wichtigsten Angaben bei Amazon Prime im Zentrum des Bildschirms. Denn "manche Kunden haben Sehstärke, die passt, aber ein eingeschränktes Sehfeld. Die Inhalte auf dem Schirm zu verteilen, hilft dann nicht." In Streaminggeräten verbaut Amazon drahtlose Koppler für Hörgeräte mit BLE (Bluetooth Low Energy), die deutlich längere Distanzen überbrücken, als im BLE-Standard vorgesehen.
Videos by heise
Dialogue Boost ist ein relativ junges, KI-unterstütztes Angebot für Amazon Prime Videos. Dabei wird die in einem Film enthaltene Sprache von Hintergrundgeräuschen getrennt, verstärkt, und dann wieder mit der allgemeinen Tonspur zusammengemischt. Das Ergebnis sind leichter verständliche Filmdialoge. Im E-Book-Lesegerät Kindle kann die aktuell gelesene Zeile farblich markiert werden: "Das verwenden viele Leute gerne. Wir glauben nicht, dass es so viele mit Leseschwierigkeiten gibt."
Rollstuhlfahrer und Kurzgewachsene können bei Lieferungen zu Amazons Schließfächern die Hinterlegung in einem niedrigen Fach auswählen. Der Amazon Navigation Assistant erlaubt den Zugriff auf wichtige Bereiche der jeweiligen Webpages des Onlineshops mit drei Tasten "anstatt 200 Tabulator-Eingaben". Und Amazons Verpackungen lassen sich inzwischen nicht nur leichter öffnen, sondern haben bei aufgedruckten QR-Codes auch acht spürbare Punkte. Damit können Blinde den QR-Code finden und dann mit ihrem Handy scannen.
Es muss aber nicht immer KI oder Packungsdesign sein. Schon einfache Maßnahmen abseits der WCAG-Kriterien für Barrierefreiheit führen näher an diese heran. Buchner-Sabathy wies darauf hin, dass Alternativtexte für Grafikdateien, die rein zur Behübschung eingesetzt werden, vielleicht nicht notwendig sind. Diese Alt-Texte zu lesen, sei für Blinde Zeitverschwendung. Außerdem sollten bei Formularen Pflichtfelder zuerst kommen, und nicht erst am Ende, wenn schon alles andere ausgefüllt ist. Denn möchte ein Nutzer eine Bedingung nicht akzeptieren, kann er sich die restliche Eingabe sparen. Während Sehende einfach das Formular nach solchen Bedingungen "scannen" können, müssen Blinde von einem Feld zum nächsten gehen.
"EU-Regulierung besser als US-Klagen"
In den USA sei Barrierefreiheit schon seit vielen Jahren rechtlich verpflichtend. Das habe allerdings auch zu sogenannten Drive-By-Lawsuits geführt, also kostspieligen Klagen von Personen, die nie die Absicht hatten, die konkrete, vielleicht nicht barrierefreie Leistung in Anspruch zu nehmen. "Europa hat daraus gelernt und eine Behörde dazwischengeschaltet", lobte Abou-Zahra die Umsetzung in der EU. In Österreich gibt es die in Deutschland verbreiteten kostenpflichtigen Abmahnungen in der Form nicht.
Das Gesetz selbst werde die Probleme nicht lösen, waren sich alle einig. "Das Gesetz wird ein kleiner Anstoß, einer von vielen Schritten", betonte Buchner-Sabathy. "Wichtig ist, zu erkennen, dass Barrierefreiheit eine Chance ist." Dem stimmte die Taubblinde Lena Öllinger, die Ambassador of Inclusion beim Beratungsunternehmen myAbility ist, zu. 30 Prozent der Bevölkerung und rund 20 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter seien laut Eurostat behindert; hier winke erheblicher "barrierefreier Umsatz" – nicht nur von den Betroffenen, die, einmal gewonnen, sehr treue Kunden seien, sondern auch von deren Umfeld.
Beispielsweise biete die Bank Austria Bankberatung mit Gebärdensprache, was sich auch bei hörenden Angehörigen herumgesprochen habe. Clickaway-Studien würden zudem nachweisen, dass nicht barrierefreie Webseiten früher verlassen werden als barrierefreie, da letztere intuitiver zu bedienen seien. Die Umsetzung des Gesetzes wird noch Zeit in Anspruch nehmen, meint Öllinger: "Es ist ein Kulturwandel. Aber man muss damit anfangen."
"Ich habe auf der Technischen Universität Wien studiert und liebe es, technische Probleme zu lösen", sagte Abou-Zahra, der selbst Rollstuhlfahrer ist. "Aber es geht um die Akzeptanz. Was wir hier eigentlich machen, ist gesellschaftliche Veränderung. Und das dauert, das ist sehr schwierig. Wir kämpfen hier auch mit Mythen."
Weitere Ăśbergangsfristen, neue Ă–BB-Automaten
Eine Übergangsfrist bis Mitte 2030 gibt es für bestehende Dienstleistungsverträge sowie für Dienstleistungen, die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes mit rechtmäßig eingesetzten Produkten etabliert waren. Ähnliches gilt für nicht barrierefreie Selbstbedienungsterminals; sie dürfen in Deutschland 15 Jahre ab Inbetriebnahme betrieben werden, in Österreich 20 Jahre, aber längstens bis Mitte 2040.
Bei den Österreichischen Bundesbahnen läuft ein Austauschprogramm. Die neuen Automaten haben besonders große Bildschirme, die sich an die Augenhöhe des jeweiligen Kunden anpassen. Kartenlesegerät und Bargeldannahme sind in einer für alle erreichbaren Höhe angebracht, und alle Elemente sind auch taktil erfassbar.
- Die ISPA gibt 13 grundlegende Tipps für barrierefreie Webauftritte, die die vier Grundsätze wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust umsetzen helfen.
- Das deutsche Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- Das österreichische Barrierefreiheitsgesetz
(ds)