Zahlen, bitte! – Wie wird man denn 152 Jahre alt?

Seit Jahrhunderten verblüffen scheinbare Methusalems die Menschen, indem sie weit über 110 Jahre alt werden – Die Wissenschaft blickt nüchterner auf die Fälle.

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Von
  • Detlef Borchers
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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Der Traum vom langen Leben beflügelt viele Menschen. Sie nehmen viele Pillen, treiben besonders viel Sport oder lassen sich genetisch untersuchen, um Altersschwächen auf die Spur zu kommen. Manche leben einfach länger und werden Superalte oder auch Supercentenarians genannt – sobald sie älter als 110 Jahre werden.

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Dabei ist das Phänomen nicht neu: Über Menschen, die ein biblisches Alter erreichten, berichtete bereits die Bibel. In früher Neuzeit gab es einige besondere Fälle im Vereinigten Königreich. Bereits der Fabrikantensohn Friedrich Engels ärgerte sich über den Nepp durch Pillen, die angeblich die Langlebigkeit garantieren sollten.

Zahlen, bitte!
Bitte Zahlen

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblĂĽffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natĂĽrlich der Mathematik vor.

Wissenschaftler, die sich kritisch mit dem Thema beschäftigen, haben jüngst die "blauen Zonen" untersucht, von denen behauptet wird, dass dort Menschen besonders alt werden.

Der bekannteste Fall ist wohl der von Thomas Parr, der 1483 in der Grafschaft Shropshire geboren wurde und der mit seiner Ernährung durch Brot, Frischkäse und Zwiebeln bei Verzicht auf Alkohol angeblich 152 Jahre und neun Monate alt wurde. Als der alte Mann im Jahr 1635 von Thomas Howard, 21. Earl of Arundel "entdeckt" wurde, war das auch sein Ende.

Thomas Parr, je nach Quelle geboren zwischen 1483 und 1565 in Winnington, gestorben † 14. November 1635 in London.

(Bild: Unbekannter Maler um 1635, gemeinfrei)

Der Antiquitätenjäger Howard brachte ihn nach London und stellte Parr König Charles I und seiner Gemahlin Henrietta Maria vor. Bald darauf starb "Old Parr" und wurde vom königlichen Leibarzt Thomas Harvey – dem Entdecker des Blutkreislaufs – obduziert. Seine Diagnose der Todesursachen: fettes Fleisch, Wein und die schlechte Londoner Luft. Harvey bemerkte in seinem Obduktionsbericht, dass Organe wie Knochen auf einen etwa 70 Jahre alten Menschen hindeuten würden.

Immerhin erhielt der in London so plötzlich gestorbene Parr ein vom König gestiftetes Grab im "Poets Corner" von Westminister Abbey, weil er als Untertan 152 Jahre unter zehn Königen gelebt hatte, wie sein Grabstein vermerkt. Sein Portrait ist bekannt, weil der als lebende Sensation vermarktete Parr in London von Peter Paul Rubens gezeichnet wurde. Der Dichter John Taylor veröffentlichte nach Parrs Ableben mit "The Old, Old, Very Old Man" eine gereimte Lebensbeschreibung von Parr.

Danach heiratete der Spätberufene erstmals mit 80, dann noch einmal mit 122 Jahren. Mit 105 Jahren zeugte er auch noch ein uneheliches Kind. Historiker, die sich mit dem Fall beschäftigten, vermuten eine falsche Beurkundung oder eine Namensverwechslung.

Mit Katherine Fitzgerald, Gräfin von Desmond, gibt es einen anders gelagerten Fall von Langlebigkeit in dieser Zeit. Die irische Adlige soll von 1464 bis 1604 gelebt haben, was damit erklärt werden kann, dass die ihr zugesprochenen Ländereien nach ihrem Tod an einen anderen Familienzweig übergehen sollten. Die lebensverlängernde Maßnahme auf dem Papier war wirtschaftlich bedingt.

Die Geschichte von Parr wurde ab 1840 wieder aufgegriffen, als der Journalist und spätere Verleger Herbert Ingram die Lizenz verlor, eine von Quacksalberei namens Morrisons Vergetable Pills zu verkaufen. Prompt ließ er sich von einem Apotheker eine eigene Mischung zusammenstellen, die er Parr's Life Pills nannte und bald in großem Stil produzieren ließ. Parallel zur Pille hatte er unter einem Pseudonym die Lebensgeschichte von Thomas Parr aufgeschrieben und dessen Langlebigkeit mit der Einnahme der besagten Pille begründet.

Parr's Life Pills waren eine Patentmedizin, deren Mischung geheim (patent) war, die jedoch ohne ärztliche Verschreibung gekauft werden konnte. Das erboste Friedrich Engels. 1845 schrieb er in seinem Klassiker "Die Lage der arbeitenden Klasse in England": "Es ist nichts Ungewöhnliches, daß der Verfertiger der parrschen Lebenspillen in einer Woche 20 000 bis 25 000 Schachteln von diesen heilsamen Pillen verkauft – und sie werden eingenommen, von diesem gegen Verstopfung, von jenem gegen Diarrhö, gegen Fieber, Schwäche und alle möglichen Übel. Wie unsere deutschen Bauern zu gewissen Jahreszeiten sich schröpfen oder zur Ader ließen, so nehmen jetzt die englischen Arbeiter ihre Patentmedizin, um sich selbst dadurch zu schaden und dem Fabrikanten derselben ihr Geld in die Tasche zu jagen." Herbert Ingram kam zu einigem Vermögen und konnte so "The Illustrated London News" herausbringen. Später distanzierte er sich vom Pillengeschäft.

Zu der Zeit, als sich Engels über Parrs Lebenspillen beschwerte, war der Niederländer Geert Adriaans Boomgaard gerade einmal 57 Jahre alt. Als er 1899 starb, war er der erste Mensch mit dokumentierten Lebensdaten, der über 110 Jahre alt wurde und so als Superalter einen Rekord aufstellte. Die Betonung liegt hier auf "dokumentierten Daten".

Für ein möglichst langes Leben gab der Informatiker und Futurologe Ray Kurzweil im Jahr 2005 an, 250 Pillen am Tag zu schlucken und sich sechs Infusionen pro Woche verabreichen zu lassen. Sein Ziel sei, die "technologische Singularität" zu erleben, wenn menschliche und maschinelle Intelligenz einander ebenbürtig sind.

Zwar erfreut sich Ray Kurzweil bester Gesundheit, aber man sieht ihm sein höheres Alter trotz der vielen Präparate durchaus an, hier auf der South by Southwest 2024 in Austin, Texas.

(Bild: CC BY 4.0, Jay Dixit)

Viele Annahmen über Supercentenarians, unter anderem die, dass es auf der Erde "Blaue Zonen" gibt, in denen Menschen länger leben, werden von der Wissenschaft bezweifelt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Untersuchungen von Saul Newman vom Oxford Institute of Population Aging an der Universität Oxford.

Für die blauen Zonen auf den Inseln Sardinien und Okinawa fand er beispielsweise heraus, dass die dokumentierten Geburtsdaten größtenteils fehlerhaft waren und eher auf Rentenbetrug denn eine hohe Lebenserwartung schließen lassen. Für seine Arbeit erhielt Newman im Jahr 2024 in der Kategorie Demographie den satirischen Ig-Nobelpreis, der für kuriose Forschungen verliehen wird. Das beweist wiederum, dass ernsthafte Forschung mit einer humorigen Interpretation zusammengehen kann, wenn Menschen erst zum Lachen und dann zum Nachdenken gebracht werden, wie es in den Preisregeln heißt.

Wer also gegenwärtig 152 Jahre alt werden will, sollte entweder viele Pillen schlucken oder in einen Ort mit schludriger Bevölkerungserfassung ziehen.

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