Nach Zugunfall: Prüfer warnen vor systematischem Problem mit Flüsterbremsen

Anwohnern sind die Flüsterbremsen lieb, in der Schweiz sollen sie einen schweren Unfall verursacht haben. Was die Deutsche Bahn dazu sagt.

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Abschnitt einer Schienenweiche

(Bild: heise online / anw)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Von Anwohnern von viel befahrenen Bahnstrecken wurden sie lange Zeit dringend erhofft, in der Schweiz gelten sie nunmehr als Risiko: Der Einsatz von sogenannten Flüsterbremsen soll den Unfall eines Güterzuges im Gotthard-Basistunnel im August 2023 ausgelöst haben. Zu diesem Ergebnis kommt der Abschlussbericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST). Aber mehr noch: Die Prüfer sehen darin keinen Einzelfall, sondern warnen vor einem systematischen Problem.

Der Unfall, der für massive Schäden im Tunnel und eine zweiwöchige Sperrung sorgte, ereignete sich durch den Bruch einer Radscheibe aufgrund von Ermüdungsrissen, die durch thermische Überbelastung entstanden waren. Sämtliche Räder des Unfallwagens wiesen laut Untersuchung die gleichen Übermüdungsrisse auf – auch die deutlich jüngeren. Die SUST führt dies auf die europaweit eingesetzten LL-Bremssohlen aus Verbundstoff zurück, die als "Low Friction - Low Noise"-Bremsen vermarktet werden. Aufgrund von Lärmschutzbestimmungen ersetzen sie die früher verwendeten Gusseisenbremsklötze.

Das Problem verschärfe sich durch heutige Betriebsbedingungen: Güterzüge fahren nicht mehr nur 60, sondern bis zu 100 km/h und müssen entsprechend stärker bremsen, was zu höherer Wärmeentwicklung führt. Eine nach dem Gotthard-Unfall eingesetzte europäische Arbeitsgruppe entdeckte in 74 Fällen Risse in Wagenrädern, in 10 Fällen waren die Räder bereits gebrochen.

Für die Deutsche Bahn dürfte der Zeigefinger auf die Bremse ungelegen kommen: Sie hat nunmehr ihre gesamte Güterwagen-Flotte von rund 60.000 Fahrzeugen auf die problematischen LL-Bremssohlen umgerüstet, um die Vorgaben des Schienenlärmschutzgesetzes zu erfüllen. In einer Stellungnahme, die im Fachmedium Lokreport veröffentlicht wurde, teilte das Unternehmen mit, dass "Einsatz- und Instandhaltungsregeln für Radsätze europaweit ständig angepasst worden" seien, "um die mechanischen und thermischen Belastungen der Räder zu reduzieren". Zusätzlich zu den regulären wagentechnischen Untersuchungen und Bremsproben vor jeder Zugfahrt erhält nach DB-Angaben jeder Wagen bei Werkstattaufenthalten eine ergänzende Prüfung der Radwellen. Die Bahn verweist auf eine europäische Arbeitsgruppe, die sich unter Beteiligung der Schweiz mit Schäden an klotzgebremsten Vollrädern befasst hat.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ziehen indessen Konsequenzen: SBB Cargo wird "so schnell wie möglich aus dem Transport von Wagen mit LL-Bremssohlen aussteigen", wie Cargo-Chef Alexander Muhm ankündigte. Der Transportstopp soll größtenteils bis Ende des Jahres umgesetzt werden und gilt so lange, bis EU-Eisenbahnagentur und Schweizer Bundesamt für Verkehr "griffige Maßnahmen zur Modernisierung und Verbesserung des Unterhalts von Güterwagen" verabschieden. Sorgen in der Schweiz dürfte das aber nur teilweise zerstreuen. Nur etwa die Hälfte der alpenquerenden Güterzüge werden von den SBB gefahren. Bahnexperten verlangen deshalb Grenzkontrollen für Güterzüge in der Schweiz, bei denen überhitzte Räder durch bildgebende Messungen erkannt werden könnten.

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Die SUST richtet drei zentrale Sicherheitsempfehlungen an die EU-Eisenbahnagentur: eine Ausweitung der Regelungen zum minimalen Raddurchmesser auf alle Radsatztypen mit Verbundstoffbremssohlen, eine Anpassung der Instandhaltungsvorgaben sowie eine Studie zum Einfluss von Verbundstoffbremssohlen auf die thermische Belastung der Räder. Das Schweizer Bundesamt für Verkehr hält eine Lösung nur auf internationaler Ebene für möglich. Europaweit seien rund 500.000 Güterwagen mit den Flüsterbremsen im Einsatz.

(mki)