Was war. Was wird.
Zertifizierte Meinungsfreiheit. Ja, das wär was, wenn es eine Norm für angemessene Meinung gäbe, dann, ja dann... Ach, lassen wir das, drängt Hal Faber: Normierte Meinungen haben wir doch schon genug.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Nach dem kleinen Ausflug in das Jahr 1986 in der vergangenen Woche geht es huschhuschhusch noch weiter zruück. Heute vor 134 Jahren wurde der Staubsauger von Melville Bissell zum Patent angemeldet, Seine Staubpumpbesen wurden ab 1880 zu monströsen Saugreinigern, ein Geschäft für Fahrensleute, die mit ihren lärmenden Wagen wie die Scherenschleifer unterwegs waren und ihre Dienste anboten. Anna Bissell, die ihren Mann Melville zur Erfindung des Staubsaugers angeregt hatte, war die erste Geschäftsfrau, der es gelang, die Firma zu internationalisieren. Mit der Einführung einer Pensionskasse und einer Krankenversicherung war Bissell eine gute Arbeitgeberin. "Niemand muss mehr Staub unter den Teppich kehren", war ein Bissell-Slogan, ehe das Gegenteil zur Maxime der Politiker wurde. Nehmen wir jubiläumstechnisch nur diese Banküberweisung, an der hinterher niemand nicht keine Schuld hat.
*** Mit frisch dank Unschuld gewaschenen Händen, befreit vom Handel über Sarrazins Pensionsgelder, hat unser Bundespräsident Wulff von Journalisten Qualitätssicherung verlangt. Gerade in Zeiten der Informationsflut im Internet brauche es quasi eine ISO-Norm für den Journalismus. Eine knallharte Recherche bei der ISO ergab, dass keine derartige Norm in Arbeit ist, mit der die Meinungsfreiheit zertifiziert und der Qualitätsjournalismus zuverlässig vom qualligen Journalismus unterschieden werden kann. Was annähernd passt, ist ISO 10006, wenn man "Projekt" durch "Artikel" ersetzt und die "Beschränkungen in Bezug auf Zeit, Kosten und Ressourcen" durch Scheißalltag. Als Journalist mit sinkenden Honoraren seit 1986 meine ich das durchaus wörtlich. Doch nicht nur Bundeskanzlerin Merkel leibt und gleitet in einer eigenen Realität, auch die Zahler und Zocker im Journalismus tun es, wie in der NZZ nachzulesen ist: "Der Verleger erbringt eine schützenswerte Leistung. Er investiert in aufwendige Recherche, in seine Marke, in Werbung und Marketing, er stützt und finanziert den Autor, Künstler, Journalisten langfristig, auch durch Krisen hindurch." Klingt gut, stimmt nicht, selbst bei einem ehrenwerten Unternehmen in der norddeutschen Tiefebene, das diese Wochenschau finanziert: Recherche ist ein selbst zu zahlendes unternehmerisches Risiko. Und frei schwadronierende Leute wie Döpfner wollen ein "Leistungsschutzrecht" verkaufen?
*** Man könnte sich gar nicht den Schrecken ausmalen, den ein Sarrazin am Gemächte kneifen würde, wenn Wulffens Faktentreue auch für sein Machwerk "Deutschland schafft sich ab" gelten sollte. Belustigt hat mein jüdisches Gen gegackert, als ich auf Seite 94 knallhart recherchierend las, dass 1910 in Deutschland 19% aller Hochschullehrer jüdisch waren. Eine Anmerkung, dass bis auf ein knappes Dutzend alle als Privatdozenten arbeiteten und lehrten, hat es nicht in das Buch geschafft. Sehr schön auch die leicht modifizierte Abschreiberei aus der Wikipedia, wenn es auf Seite 441 heißt: "Die Mendelschen Regeln wurden 1904 durch die von Walter Sutton und Theodor Boveri begründete Chromosomentheorie der Vererbung bestätigt und damit erst bekannt." Mein jüdisches Gen gackert besonders laut und lustig, weil Sarrazin die Arbeit von Hugo de Vries ignoriert. Man könnte fast glauben, der Mann kann nicht lesen. Angeblich ist der Jubel groß, nicht nur im Hause Bertelsmann, das genau zum eigenen schön gerechneten Geburtstag mit dem Sarraschmankerl poussiert. Jaja, die vielen, vielen Bürger, die jetzt jubeln, ganz wie Sarrazin auf Seite 263 über Enoch Powell jubelt und einen Satz abschreibt, der bei Islamization Watch zu finden ist.
*** Um Wikileaks ist es derzeit still. Immerhin ist das Kondomziehen (Qualitätsjournalisten schreiben vom Tauziehen) um den Blitzableiter Julian Assange nicht so schlimm, als dass dieser untätig bleiben muss. Seine Reisefreiheit ist bestätigt worden, entsprechend wird er 2011 als Redner auf der CeBIT auftauchen, die sich den schönen Slogan "Heart of the digital world" zugelegt hat. Hannover, Harmann, Heart, das ist doch ein schöner Dreiklang. Noch lustiger sind freilich die Töne, die das in dieser Woche gestartete Leaks-Projekt depub.org allenthalben erzeugt. Legal, illegal, scheißegal, könnte man den Dreiklang nennen, denn nichts ist sinnloser, als mit GEZ-Geldern produzierte Nachrichtensendungen zu depublizieren. Man nehme nur die Bilder, die von der gefährlich das Gras bedrohenden Umzingelung in Berlin derzeit geflimmert werden. Sie sind wichtig, zumal eine Bundeskanzlerin gerade den erneuten Atom-Einstieg als Volksentscheidung deklariert, wie sie es aus der Jugendzeit gewohnt ist. Dabei war nicht mal der Volks-Umweltschützer dabei, der auch ein Deutschland-Buch geschrieben hat. Die besten Jahre Deutschlands kommen noch: Es gibt einen Grund zum Strahlen.
*** Vor zwei Jahren wurde vom Bundesinnenministerium die elektronische Ausländerkarte vorgestellt. Vor einer Woche trafen sich die Fingerabdruckexperten und berichteten von den Schwierigkeiten, die die Abnahme der benötigten Fingerabdrücke, ähem, Pokaz, ähem, Pokaz, bereitet. Nun schreibt der Döpfnersche Qualitätsjournalismus über das Thema, begleitet von unsinnigen Behauptungen zum Sozialbetrug. Wo sind eigentlich die Lager, die der Franzose Sarkozy bei uns gesichtet hat? Vielleicht kann ihm Simone Veil die historische Perspektive erläutern. Andererseits wäre ein Kampf der Häuptlinge Merkel und Sarkozy, komplett mit verirrt fliegenden Hinkelsteinen, das Schlechteste nicht. Handzumgrus, Handzumgrus!
Was wird.
Am Montag bekommt das @ ein Brüderchen oder ein Schwesterchen – es gibt männliche und weibliche Buchstaben, aber beim verkümmerten i bin ich mir nicht so sicher. Der Aufwand, den die Werber um das eingekreiselte i (es wird Power-i ausgesprochen) machen, ist jedenfalls groß, mindestens so groß wie der Anspruch der Werber, dass ein neues Zeitalter der Privatsphäre anbricht, weil Anwender erstmals lernen können, welche Anzeigen sie aufgrund ihres Surfverhaltens serviert bekommen. Ehrlichkeit und Werbung, das ist wie Sarrazin und Wissenschaft oder Computer und Datensicherheit, da steht i mit Kringel für inkommensurabel. Was uns zurück zum Anfang mit den Staubsaugern bringt. Denn die Datenschutzerklärung der ehrwürdigen Firma Bissell schickt via ask Anna-Mail die Daten zur Gründerin.
Die Frankfurter Buchmesse naht, die Verlage faseln von einer neuen Zündstufe für eBooks und nennen den ersten Titel schwer symbolisch Strohfeuer, Liquide war gestern. Ein Twitterbuch begeistert die Literaturkritik genauso wie die Fachleute von Top Hair Business und Friseur Auf Zeit. Getoppt wird das Werk nur noch von dem Twitter-Buch, das als erstes großes Werk im Kanon der Weltliteratur komplett in Powerpoint geschrieben wurde. Hätte bloß Prust so ein Werkzeug gehabt, was hätte da multimedial aus seiner Recherche werden können! Natürlich dürfen wir darüber den großen Twitter-Roman "Kopf ab" über die Französische Revolution nicht vergessen, der jeden Franzen mühelos toppt. Wer nicht zur Lobotomie neigt, dem bietet sich mit Zero History eine ordentliche Alternative an.
Auch zur Buchmesse gibt es eine Alternative: Zur Tools of Change versammeln sich der bedauerlicherweise wohl unvermeidliche Jeff Jervis, dem zum elektronischen Personalausweis nur Sarrablödzinn einfällt und der seinen üblichen Sermon von sich geben wird, sowie Douglas Rushkoff, dessen Aufruf an alle Programmierer schon in der Süddeutschen Zeitung stand, allerdings nicht online verfügbar ist. Das hat natürlich buchtaktische Gründe, die das 11. Gebot des Testaments so gut beschreibt: Du sollst kaufen. (Du sollst klicken und verdammt nochmal Adblock Plus ausstellen – sonst regnet es Hinkelsteine.) (jk)