Was ist die Privatheit in der digitalen Welt noch wert?

Auf einer Tagung in Berlin diskutierten Politiker, Wissenschaftler und Strafverfolger über den Schutz der Grundrechte und staatliche sowie privatwirtschaftliche Überwachungspraktiken.

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Vertreter aus Politik, Polizei und Wissenschaft stellten sich am gestrigen Sonnabend auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin der Frage, inwieweit die Privatheit angesichts terroristischer Bedrohungen und den in der digitalen Welt immer länger werdenden Datenschatten der Techniknutzer ein schützbares Gut ist. Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, hielt dabei ein Plädoyer für die informationelle Selbstbestimmung. Immer wieder werde er mit dem Argument konfrontiert, dass rechtschaffene Bürger doch nichts zu verbergen hätten. Dem Juristen zufolge gehe es dabei letztlich um die "Frage der politischen Auseinandersetzung um unser Selbstverständnis, ob wir uns als offenes Buch gegenüber dem Staat definieren, indem er blättern kann wie er will, oder als Menschen, die sagen, wir wollen autonom sein und frei". Er persönlich sei der Überzeugung, "dass eine freiheitliche Gesellschaft nur existieren kann, wenn Individuen darauf pochen, dass sie eine Privatheit haben". Möglich sein müsse ein "Leben als Gleiche unter Gleichen, ohne, dass Daten über uns in fremde Hände kommen".

Beate Roessler, Philosophieprofessorin an der Universität Amsterdam, ging mit Montag konform, dass jeder einen privaten Raum für die informationelle Selbstbestimmung benötigt und leitete dieses Recht aus der menschlichen Autonomie ab. Datenschutzbefürworter müssen ihrer Ansicht nach aber besser zum Ausdruck bringen, "welche unserer Werte konkret in Gefahr sind". Die Warnung vor Eingriffen in "die Freiheit" allein "reißt die Leute nicht auf die Straße". Aufrüttelnder könnte es sein, etwa von der Entfremdung von gewohnten Lebenswelten oder deren Verdinglichung durch die zunehmende Überwachung zu sprechen. Auf jeden Fall seien die konkreten Auswirkungen einzelner Kontrolltechniken auf das Leben des Einzelnen genau zu benennen.

Als praktische Grenze zur Sicherung der Privatsphäre führte Sebastian Müller vom Deutschen Institut für Menschenrechte Artikel 1 des Grundgesetzes an, demzufolge die Würde des Menschen unantastbar ist. Diesen unumstößlichen Achtungsanspruch habe das Bundesverfassungsgericht insbesondere im Urteil zum Großen Lauschangriff fortgeschrieben. Darin sei klargestellt worden, dass ein unantastbarer "Kernbereich privater Lebensgestaltung" für die freie Entfaltung in höchstpersönlichen Angelegenheiten zu wahren ist. "Rundumüberwachungen sind unzulässig", folgerte der Jurist. Niemand dürfe umfassende Bewegungsbilder erstellen oder sich einen kompletten Überblick verschaffen wollen, was eine Person mache. "Jeder Mensch braucht die Privatheit als Rückzugsraum", betonte Müller, "um sich unüberwacht Gedanken machen zu können, was er in der Öffentlichkeit kundtun will."

Was Gesetzgeber und Strafverfolger aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben machen, ist immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Auf der Tagung stand dabei die Frage nach der Rechtmäßigkeit von tief in die Grundrechte eingreifenden Maßnahmen wie der akustischen Wohnraumüberwachung und der in Brüssel abgesegneten Vorratsspeicherung von Telefon- und Internet-Daten im Vordergrund. Bernd Carstensen, Sprecher des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK), verteidigte die Ermittlungsinstrumente. Der Große Lauschangriff ist ihm zufolge schon "vom handwerklichen Ansatz Ultima Ratio", sodass pro Bundesland bislang kaum mehr als zehn entsprechende Maßnahmen durchgeführt worden seien. Um bei der Aufklärung schwerer Straftaten aber im Einzelfall noch Beweismaterial für die Hauptverhandlung zu beschaffen, müsse der Eingriff weiter möglich sein. Er selbst habe vor kurzer Zeit eine Wohnraumüberwachung erfolgreich mit durchgeführt, in einem Fall, in dem es um Menschenhandel ging.

Hans-Jürgen Garstka wusste aus seiner langjährigen Tätigkeit als Berliner Datenschutzbeauftragter dagegen zu berichten, dass sämtliche in der Hauptstadt durchgeführten großen Lauschangriffe "ergebnislos verlaufen sind". Entscheidende Beweismittel hätten die Ermittler nie liefern können. Gleichzeitig beklagte er die immer wieder zu findende Tendenz, dass die Maßnahme eigentlich für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eingeführt, dann aber für die Verfolgung anderer Straftaten herangezogen worden sei, bis hin zur Überprüfung eines Verdachts der Bestechlichkeit bei Beamten. Für den Juristen gehört der Einsatz der Wanzen im Wohnraum damit zu einem "Sicherheitstheater", das man besser sein lassen sollte.

Bei der Vorratsdatenspeicherung bestand Carstensen auf einem klar beschränkten Zugang zu den Informationsbergen, da sich etwa "die Wichtigkeit eines Gesprächs erst nach einigen Monaten herausstellen kann". Garstka beklagte dagegen, dass das Interesse der Strafverfolgung in die Richtung gehe, die Strafprozessordnung auf den Kopf zu stellen. "Ich weiß, dass es kinderpornografische oder rechtsradikale Web-Seiten gibt und will rückwärts abwickeln, wer darauf zugegriffen und daraufhin Straftaten begangen hat", erklärte er die Logik der Ermittler. Damit werde im Nachhinein ein Verdacht gegen eine Person erzeugt, was gegen alle Prinzipien der Strafverfolgung verstoße.

Montag monierte, dass der Appetit der Polizei mit jeder vom Gesetzgeber genehmigten Datensammlung immer größer werde und verwies dabei etwa auf den geforderten Zugriff auf die Abrechnungsdaten der LKW-Maut. Für noch größer als im staatlichen, hält der Grüne die künftigen Datenschutzprobleme aber im privatwirtschaftlichen Bereich. In Bezug auf die Pläne der Industrie, künftig jedes Produkt mit Hilfe von RFID-Chips mit einer eindeutigen Kennung zu versehen, warnte er davor, dass wir "vom autonomen Subjekt zu einer Verlängerung einer Verkaufsstrategie" werden. Es müsse verhindert werden, dass aus einem "Service-Angebot eine Struktur wird, die tendenziell das ganze Leben durchökonomisiert". Als nicht weniger gefährlich bezeichnete er die undurchsichtigen Praktiken für ein Scoring zur Kreditwürdigkeitsprüfung, da damit eine für den Einzelnen nicht nachvollziehbare Diskriminierung möglich werde. (Stefan Krempl) / (pmz)