Digitalokratie: Kann Europa die digitale Freiheit zurückgewinnen?
Was Europas digitaler Zukunft helfen könnte und wie die Befreiung aus den Fängen der Tech-Monopolisten gelingen kann, war Thema auf der KI-Woche in Stuttgart.
Der Landesdatenschützer von Baden-Württemberg, Tobias Keber, der Medienwissenschaftler und Buchautor Martin Andree, Wolfgang Kreißig, Präsident der Landesmedienanstalt Baden-Württemberg und Peter Nägele, ebenfalls von der baden-württembergischen Datenschutzbehörde, diskutieren die Monopole von Big Tech und deren Implikationen (von links nach rechts).
(Bild: LfDI BW)
Die Macht der Digitalkonzerne wächst – auch politisch. Laut einer neuen Analyse von LobbyControl haben die großen US‑Techunternehmen ihre Lobbyausgaben in Brüssel auf ein Rekordniveau von 151 Millionen Euro pro Jahr gesteigert. Damit übertrifft die Digitalindustrie alle anderen Branchen. Demnach gibt es inzwischen mehr Tech‑Lobbyisten als Europaabgeordnete.
Darüber diskutierten der Medienwissenschaftler Martin Andree, der Präsident der Landesmedienanstalt Baden-Württemberg, Wolfgang Kreißig, und Tobias Keber, der Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg, auf der von seiner Behörde veranstalteten KI-Woche. Selbst gut gemeinte Regulierung habe bislang kaum Wirkung entfaltet. Big Tech schreibt größtenteils die Spielregeln der Politik.
"Das freie Internet wurde abgeschafft"
"Das freie Internet wurde abgeschafft", stellte Andree klar. Tim Berners‑Lee hatte sich das laut Andree so vorgestellt, "dass jeder Knotenpunkt gleichberechtigt ist. Sie sehen auf der rechten Seite, das, was wir jetzt haben: Die Konzerne haben es geschafft, im Prinzip die ganze Nutzung, den ganzen Traffic aus dem Netz herauszusaugen." Heute sei das Netz keine öffentliche Sphäre mehr, sondern eine Konzerninfrastruktur: "Das Netz ist noch da, aber es ist leer von Traffic. Da ist nichts mehr, denn der ganze Traffic ist jetzt in den Silos der Plattformen."
86 Prozent der Marktkapitalisierung aller Plattformen liege Andree zufolge in US‑Unternehmen. Unter solchen Bedingungen "haben wir de facto im Netz Monopole – und einen Friedhof." Zudem erklärte Andree, wie die Digitalindustrie ihr Übergewicht auch politisch absichert. Die Tech‑Konzerne hätten nicht nur enormen ökonomischen Einfluss, sie seien gleichzeitig politisch perfekt organisiert. Durch die Lobbymacht schafften sie es, selbst Gesetze, die gegen sie gerichtet seien, so mitzugestalten, dass sie am Ende nichts bewirkten. Dabei sprach er von "lobbyistischen Schauermärchen". Politische Diskussionen hingegen seien schon verloren, wenn das Wort "Regulierung" ausgesprochen werde.
"Wir haben ihnen eine ganze Reihe von Rechtsprivilegien geschenkt" – vom Einsperrprivileg, das Nutzer in abgeschlossene Plattformen zwingt, bis zum Haftungsprivileg, das Konzerne von juristischer Verantwortung entbinde. Die Monopolsituation basiere nur auf Fehlregulierung und Rechtsprivilegien, "die wir selbst geschaffen haben. Wir können sie sofort abschaffen, und puff – fallen die Monopole zu Staub zusammen", sagte Andree. "Wir nehmen den absolutistischen Digitalherrschern ihre Privilegien ab und befreien das Netz. Der Befreiungsdiskurs ist dann bei uns – und nicht mehr bei den Tech‑Konzernen."
Warum Regulierung im jetzigen System kaum wirkt
Kreißig bestätigte die Problematik: "Aus Sicht einer demokratischen Gesellschaft gibt es aktuell keine digitale Souveränität. Wer das glaubt, macht sich was vor." Grund dafür sei, dass die großen Plattformen "die besten Anwälte" hätten. "Die schreiben nicht unter 100 Seiten pro Schriftsatz. Natürlich ziehen sich die Verfahren über Jahre." Mit Blick auf LobbyControl sagte er: "Noch nie wurde so viel Lobbygeld in Brüssel ausgegeben – 151 Millionen Euro. Natürlich fragt man sich da, ob unabhängige Regulierung unter diesen Bedingungen überhaupt eine Chance hat."
Auf europäischer Ebene werde zwar Regulierung geschaffen – etwa durch den Digital Services Act (DSA) –, die Umsetzung aber permanent ausgebremst. "Die Plattformen klagen, verzögern, erschweren. Jedes neue Gesetz bleibt zunächst in endlosen Verfahren hängen", sagte Kreißig.
Lobbyistische Schauermärchen
Das alles koste sehr viel Geld, und die Verfahren schwächten das System und verzögerten Lösungen. "Und die Lobby schließt gezielt jede Lücke. So kommen wir nicht hinterher", monierte Kreißig. Andree verdeutlichte, dass Regulierung allein zu spät greift, wenn sie sich nur auf Marktmechanismen beschränkt: "Digitalokratie – das ist das, was nach der Demokratie kommt. Wenn die Demokratie jetzt abgeschafft wird […], dann ist die neue Ordnung die digitalokratische Ordnung."
Diese Ordnung sei geprägt von algorithmischen Machtstrukturen: "Die Plattformen polarisieren, desinformieren, Hass, Hetze und Häme steigen. Was kommt unter die Räder? Solche Sachen wie Journalismus, Wissenschaft, moderate Parteien." Andree plädierte dafür, die "Geschichte" anders herum zu erzählen. "Wir nehmen den absolutistischen Digitalherrschern ihre Privilegien ab und befreien das Netz."
Haftungspflicht und ihre Grenzen
Für Andree ist klar: "Immer da, wo Geld fließt, muss Haftung sein." Wer ein Geschäftsmodell auf Basis fremder Inhalte oder öffentlicher Kommunikation betreibe, müsse dafür auch Verantwortung tragen. Es könne nicht sein, dass die Plattformen verdienten, während der Schaden in der Gesellschaft entstehe. Haftung sei für ihn keine Einschränkung, sondern eine notwendige Rechenschaftspflicht in demokratischen Märkten.
Keber sah diese Forderung in seiner Rolle als Datenschützer jedoch kritisch. Eine pauschale Haftungspflicht könne dazu führen, dass Plattformen Inhalte vorbeugend löschten, filterten oder Kommunikationsdaten massiv auswerteten, um Risiken zu vermeiden. Wer genug Ressourcen habe, könne jede Haftungsregel erfüllen – kleinere, unabhängige Anbieter aber würden verdrängt. Damit drohe eine Schieflage. Strengere Haftung treffe die Falschen und verschiebe Machtverhältnisse.
Freiheit durch Regulierung
Hier, sagte Andree, beginne der Perspektivwechsel: "Wir sind die Befreier, nicht die Polizisten." Regulierung sei kein Widerspruch zur Freiheit, sondern ihr Fundament. Sie diene dazu, Macht zu begrenzen, Vielfalt zu sichern und Menschen die Kontrolle über ihre Daten und digitalen Räume zurückzugeben.
Auch Keber knüpfte daran an, betonte aber, dass Regulierung nur dann Freiheit schaffe, wenn sie unabhängig und gemeinwohlorientiert erfolge. "Nur wenn Regulierung nicht in den Netzwerken der Lobby versandet, kann sie zugleich schützen und befreien."
Regulierung müsse unabhängig gedacht werden, da sie sonst zum Feigenblatt verkomme. Demokratie sei nicht analog entstanden, aber sie müsse digital bestehen. "Wenn wir sie schützen wollen, müssen wir das Recht neu buchstabieren – in den Code der Zukunft," sagte Keber. Nur dann könne Regulierung wirklich gegen Macht, Geld und die träge Bequemlichkeit einer ganzen Gesellschaft wirken.
KI‑Reallabore
Regulierung und Fortschritt müssten keine Gegensätze sein. Positiv hob Keber in diesem Kontext eines der in Baden-Württemberg initiierten KI‑Reallabore hervor. "Es gibt diese Idee der Reallabore, um festzustellen, zusammen mit der Aufsichtsbehörde: Wie funktioniert etwas, wie funktioniert es nicht?", sagte Peter Nägele. So könnten Vorhaben in der Realität getestet werden. Andree befürworte das, weil "man dann viel schneller erkennt, worum es eigentlich geht."
Dennoch schloss er damit ab, dass es bald zu spät sei, die Monopole aufzubrechen. "Digitale Souveränität heißt, Verantwortung zu übernehmen. Regulierung allein reicht nicht – wir müssen uns gesellschaftlich schützen," warnte Kreißig. "Wir haben es geschehen lassen, dass die Monopolisten das Spielfeld gestaltet haben. Jetzt müssen wir es uns zurückholen – bevor das Spiel zu Ende ist," sagte Andree.
(mack)