Interview: "Digitalzwang ist nicht Fortschritt, sondern kurzsichtig"
Die Diplom-Informatikerin Karin Schuler und der Jurist Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise warnen davor, dass Digitalzwang zu Ausgrenzung führt.
(Bild: waragon injan/Shutterstock.com)
Digitalisierung darf kein Dogma werden. Es braucht Wahlmöglichkeiten und Verantwortung – technisch, gesellschaftlich und rechtlich. Denn nur wer Alternativen hat, kann wirklich souverän handeln.
Beispiele, wie die ausschließlich digitale Energiepreispauschale 2023, die nur über die BundID beantragt werden konnte, die zunehmende Verweigerung von Papierüberweisungen durch Banken oder Ryanairs digitale Boardkarte zeigen, wie schnell Teilhabe verloren gehen kann, wenn analoge Alternativen verschwinden. Diese Fälle verdeutlichen, dass Digitalisierung nur dann Fortschritt ist, wenn sie niemanden ausschließt.
heise online hat mit der Diplom-Informatikerin Karin Schuler und dem Juristen Thilo Weichert ĂĽber die Entwicklungen zum Thema Digitalzwang gesprochen.
Frau Schuler, Sie haben sich mehrfach kritisch zum Digitalzwang geäußert. Warum halten Sie diesen Trend für problematisch?
Karin Schuler: Alternativlose Digitalisierung gilt für viele als fortschrittlich – aber das ist es nicht. Diese Tendenz schreitet voran, und man merkt sie an ganz praktischen Dingen im Alltag: Wenn man beispielsweise bei seinem Hausarzt plötzlich keine Termine mehr per Telefon bekommt, sondern sich bei Doctolib anmelden muss. Dann wird deutlich, dass man gezwungen wird, digitale Wege zu nutzen, die meist ein Vielfaches der analogen Varianten an Datenverarbeitung mit sich bringen – und das ist einfach kontraproduktiv. Als Informatikerin verstehe ich das wirklich nicht.
Wo erleben Sie das noch?
Bei der Bahn wurden vielerorts Fahrkartenautomaten abgebaut, wodurch spontane Reisen ohne App kaum möglich sind. An vielen Bahnhöfen gibt es keinen Schalter mehr, und im Bus kann man häufig ebenfalls kein Ticket mehr kaufen. Bei Arztpraxen läuft vieles nur noch digital, selbst wenn Patientinnen und Patienten das gar nicht möchten. Bei der Packstation muss ich eine App installieren, um an mein Paket zu kommen. Das sind keine Einzelfälle. Es zieht sich durch viele Lebensbereiche. Und gerade die, die ohnehin schon benachteiligt sind, trifft es am härtesten.
Seit Jahrzehnten wissen wir im Sicherheitsbereich, dass man nicht nur auf ein Pferd setzen darf. Wenn das Pferd strauchelt, hat man keine Alternative. Wenn Alternativen abgeschafft werden, ist das kurzsichtig, sicherheitstechnisch falsch und gesellschaftlich gefährlich. Natürlich wollen wir digitalisieren – das ist vernünftig. Wir müssen mehr digitalisieren für die, die es nutzen wollen und können. Aber wir dürfen die analogen Wege nicht aus den Augen verlieren.
(Bild:Â Privat)
Thilo Weichert: Diese Entwicklung hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Ich bekomme sehr viele Anfragen aus dem Behindertenbereich, von älteren oder sozial benachteiligten Menschen, die sagen: "Ich komme damit nicht zurecht." Gerade Menschen mit Behinderungen oder Sehbeeinträchtigungen können viele digitale Angebote nicht nutzen, weil ihre Voraussetzungen andere sind. Das ist aus meiner Sicht existenziell desaströs, weil es Menschen systematisch ausschließt.
Und das betrifft längst nicht nur Ältere oder Menschen mit Behinderung. Auch wer sich aus Datenschutzgründen weigert, bestimmte Dienste zu nutzen, steht vor verschlossenen Türen. Das Problem ist strukturell geworden – es geht um gesellschaftliche Teilhabe, nicht nur um Komfort.
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Gibt es nicht bereits juristische Schritte gegen die Deutsche Bahn?
Digitalcourage klagt aktuell gegen die Deutsche Bahn, weil deren App nicht nur Nutzer zwingt, digital Tickets zu kaufen, sondern auch aufgrund zu umfassender Datenverarbeitung. Das zeigt, wie real das Problem des Digitalzwangs inzwischen geworden ist.
Digitalisierung gilt ja vielen als Inbegriff von Effizienz – weniger Papier, kürzere Wege, automatisierte Abläufe. Ist das nicht an sich etwas Positives?
Schuler: Ja, natürlich, Digitalisierung kann effizienter machen. Weniger Papier, kürzere Wege, automatisierte Abläufe – das ist alles schön und richtig. Aber es geht hier nicht nur um Effizienz. Wir brauchen Alternativen, weil sie zur Funktionsfähigkeit unseres Systems beitragen. Wenn man im Risikomanagement tätig ist, weiß man: Man muss für alle Prozesse Alternativen bereithalten – gerade für Katastrophenfälle oder im Falle großflächiger Ausfälle, zum Beispiel von Strom. Wenn Politik und Verwaltung sagen, das sei zu teuer oder zu aufwendig, dann offenbart das erschreckende Unwissenheit.
Weichert: Gleichzeitig wird das häufig mit Kostengründen gerechtfertigt – analoge Strukturen seien zu teuer. Aber das ist vorgeschoben. Sicherheit, Teilhabe und Menschenwürde lassen sich nicht betriebswirtschaftlich verrechnen. Das ist ein Grundrechtsproblem, keine Bequemlichkeitsfrage.
Trotzdem hört man aus der Politik ja auch die Aussage: "Wir können nicht alle mitnehmen."
Schuler: Ja, das stimmt – und das ist etwas, was mich wirklich ärgert. Wenn Politiker sagen, "wir können nicht alle mitnehmen", dann heißt das eigentlich: "Wir wollen nicht alle mitnehmen." Es wird so getan, als sei das etwas Natürliches, aber das ist es nicht. Gerade der Staat darf sich das nicht leisten. Aus meiner Sicht muss er alle mitnehmen, nicht nur einige. Dieses Argument ist nicht nur unverschämt, es ist auch kurzsichtig. Wir reden hier nicht über Luxus, sondern über gesellschaftliche Teilhabe.
Weichert: Richtig. Es ist verfassungsrechtlich sogar problematisch. Der Staat darf niemanden vom Zugang zu seinen Leistungen ausschlieĂźen, nur weil dieser nicht digital unterwegs ist. Teilhabe ist ein Grundrecht, und das gilt besonders fĂĽr staatliche Angebote.
Schuler: Digitalisierung sollte weitere Wege ermöglichen, nicht ausschließen.
Sie kritisieren die Entwicklungen in Schleswig-Holstein. Was passiert da genau?
Weichert: Schleswig-Holstein ist tatsächlich das erste Bundesland, das das Recht auf schriftliche oder persönliche Kommunikation mit der Verwaltung in der Verfassung stehen hat und dies nun streichen will. Damit kann digitale Kommunikation zur Pflicht erklärt werden, anstatt sie als zusätzliche Option zu verstehen. Es wäre ein Rückschritt – und dazu kommt: In der Gesetzesbegründung steht kein Wort darüber, warum.
Besonders widersprüchlich ist, dass Schleswig-Holstein gleichzeitig auch das erste Bundesland ist, das sich offiziell das Ziel gesetzt hat, digital souverän zu werden. Einerseits propagiert man also Unabhängigkeit von großen Konzernen, andererseits nimmt man Bürgerinnen und Bürgern genau die Freiheit, die für echte Souveränität nötig wäre.
Schuler: Und das zeigt, dass Digitalisierung häufig technokratisch gedacht wird – Hauptsache digitalisieren, egal ob das sinnvoll oder sozialverträglich ist. Dabei müsste es eigentlich darum gehen, digital souverän zu handeln.
Was verstehen Sie unter "digitaler Souveränität"?
Schuler: Wenn ich digital souverän sein will, dann reicht es nicht, nur zu wissen, was mit meinen Daten passiert. Ich muss auch entscheiden können, ob sie überhaupt entstehen sollen. Diese Fähigkeit, über die Entstehung von Daten selbst zu bestimmen, ist für mich der Kern digitaler Souveränität. Und das funktioniert nur, wenn ich Alternativen habe. Wenn es keine analogen Wege mehr gibt, werden Datenzwang und Digitalzwang eins. Dann bin ich nicht mehr souverän, sondern abhängig. Das ist eine Entscheidung, die mich meiner Kontrolle beraubt.
Digitale Souveränität bedeutet auch, dass ich nicht gezwungen werde, jeden Technologiepfad mitzugehen. Es geht darum, bewusst und selbstbestimmt zu entscheiden, wie und wann man Technik nutzt. Ich kann zum Beispiel sagen: Ich mache meine Bankgeschäfte nicht übers Handy, weil ich diesem System nicht vertraue. Oder ich entscheide mich bewusst gegen eine App, weil ich keine Daten teilen will. Das ist keine Technikfeindlichkeit, das ist reflektierte Selbstbestimmung. Der Staat sollte genau das fördern – dass Bürgerinnen und Bürger durch Wissen und Transparenz eigene Entscheidungen treffen können. Das wäre gelebte digitale Mündigkeit. Aber solange der Staat Menschen zwingt, digital zu handeln, entzieht er ihnen diese Freiheit.
Weichert: Und man darf nicht vergessen, dass digitale Souveränität auch eine staatliche Dimension hat. Auf staatlicher Ebene bedeutet sie Unabhängigkeit von außereuropäischen Anbietern – etwa von Microsoft, Apple oder Google. Diese Unternehmen unterliegen anderen Rechtsordnungen und politischen Einflüssen. Auf individueller Ebene bedeutet digitale Souveränität, dass Menschen Entscheidungsfreiheit haben. Wenn ich keine Wahl habe, ist meine Freiheit verloren. Nur wenn Alternativen existieren, kann individuelle und staatliche Souveränität bestehen.
Schuler: Wenn wir alles auf Android, iOS und amerikanische Cloud-Systeme setzen, machen wir uns abhängig. Wenn sich politische Rahmenbedingungen dort ändern – wie etwa unter einer Trump-Regierung – dann weiß niemand, was mit den Daten passiert. Das, was heute bequem ist, kann morgen gefährlich sein. Und selbst wenn wir versuchen, alles in Europa zu hosten: Wenn irgendwann hier politische Mehrheiten kippen, etwa zugunsten der AfD, möchte ich mir nicht ausmalen, was mit diesen Daten passieren könnte. Sicherheit ist keine statische Größe.
Viele Menschen haben kein Bewusstsein fĂĽr Datenschutz und sagen, dass der Datenschutz nicht so wichtig ist, Hauptsache, es funktioniert.
Weichert: Da fehlt das Verständnis. Datenschutz ist die Grundlage unserer Freiheitsrechte. Viele merken das aber erst, wenn sie betroffen sind – wenn Gesundheitsdaten oder private Nachrichten in falsche Hände geraten. Dann ist das Entsetzen groß.
Schuler: Das sehe ich genauso. Datenschutz ist kein Selbstzweck und keine BĂĽrokratie, sondern Verantwortung. Es geht darum, Menschen in die Lage zu versetzen, informiert zu entscheiden. Und diese Verantwortung muss vom Staat vorgelebt werden. Der Schutz von Daten ist Teil des Schutzes der Demokratie.
Frau Schuler, Sie sprachen davon, Apps bewusst nicht zu nutzen. Wie setzen Sie das um?
Schuler: Ganz einfach: Ich installiere keine Post-App und mache keine Bankgeschäfte über das Smartphone. Das ist meine Entscheidung – und ich will, dass sie respektiert wird. Es geht nicht darum, sich allem Digitalen zu verweigern, sondern um eine bewusste Wahl. Und die sollten mehr Menschen in Anspruch nehmen. Niemand muss von heute auf morgen alles umstellen. Aber man kann beginnen, an kleinen Stellen Entscheidungen zu treffen: Welche Apps installiere ich? Welche Daten gebe ich ab? Welche Alternativen gibt es? Wenn man an solchen Punkten anfängt, stärkt man seine eigene digitale Souveränität.
Wir dürfen nicht in dieselbe Entweder-oder-Logik verfallen wie die, die nur noch digitale Prozesse wollen. Es geht nicht um "alles digital" oder "gar nichts digital", sondern darum, sich Freiräume zu erhalten. Kleine Schritte reichen, um Veränderungen anzustoßen. Wenn man sich dafür entscheidet, statt WhatsApp einmal Signal oder Threema zu nutzen, ist das kein großer Aufwand – aber es ändert etwas. So entsteht Souveränität von unten.
Weichert: Ja, absolut. Digitalisierung und analoge Teilhabe gehören zusammen. Wer analoge Wege abschafft, gefährdet Demokratie, Freiheit und Sicherheit. Eine kluge Digitalisierung braucht Vielfalt, Respekt vor Entscheidungen und Wahlfreiheit. Dann kann sie wirklich fortschrittlich sein.
(mack)